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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Sittengesetz - Erziehung; Stufen sittlicher Erziehung

Kurzinhalt: Abschließend wollen wir die je verschiedene Rolle des Gesetzes gemäß den Etappen der sittlichen Erziehung betrachten, die das Wachstum der Freiheit fördert.

Textausschnitt: Das natürliche Sittengesetz und die Stufen der sittlichen Erziehung

98c Abschließend wollen wir die je verschiedene Rolle des Gesetzes gemäß den Etappen der sittlichen Erziehung betrachten, die das Wachstum der Freiheit fördert. Als Erstes gilt es, bestimmte Regeln und eine Disziplin im Leben zu erlernen. Auf dieser Stufe ist das Gesetz eher etwas Äußerliches. Konkret wird es von den Personen verkörpert, denen die Erziehung aufgetragen ist. Die Hauptfunktion des Gesetzes ist hier, unseren Fehlern und Sünden sowie den verhängnisvollen Ausuferungen unserer Gefühle und unseres Wollens entgegenzuwirken. Insofern sind ein gewisser Zwang und Verpflichtung vonnöten; diese sind in den negativen Geboten des Dekalogs ausgedrückt. Es ist der Geschicklichkeit des Erziehers aufgetragen, die Entsprechung zwischen diesen Pflichten und dem Verlangen nach dem Guten und der Wahrheit aufzuzeigen. (Fs)

99a Auf dieser Ebene haben die verschiedenen Arten der Sollensethik ihren Wert. Historisch betrachtet haben sie jahrhundertelang die Rolle der ersten Erziehung der Christen erfüllt. Man kann ihnen gleichwohl den Vorwurf machen, dass sie die Moral auf die Ebene der Verpflichtung und der Bekämpfung der Sünde beschränkt haben. Sie haben nicht hinreichend gezeigt, dass das grundlegende Gesetz des sittlichen Lebens (und überhaupt jeglichen Lebens), das am Ursprung der Verpflichtungen steht, die Neigung und das Streben nach einem Fortschritt auf das Gute hin ist. Dementsprechend haben diese Typen der Ethik auch nicht auf die nächsten Stufen des moralischen Wachstums vorbereiten können. (Fs)

99b Diese Kritik betrifft jedoch nicht die Rolle der Verpflichtung als solche, die für diese Etappe der moralischen Erziehung unentbehrlich ist. Es wäre nämlich sehr illusorisch, eine Ethik ohne Verpflichtung konzipieren zu wollen. Die Aufgabe der Ethiker besteht darin, die genaue Rolle der Verpflichtung zu bestimmen und sie in den Dienst der Tugenden zu stellen, die für die moralische Entwicklung die größte Bedeutung haben. Die Verpflichtung ist nötig, um das Mindestmaß an ethischem Verhalten zu bestimmen, da sich sonst keine Tugend entwickeln kann. Mord zum Beispiel zerstört die Tugenden der Gerechtigkeit und Liebe. (Fs)

99c Die zweite Stufe des moralischen Fortschritts ist durch einen zunehmenden persönlichen Einsatz charakterisiert. In dem Maß, wie man sich der Entsprechung zwischen den Geboten des Gesetzes und den innersten und wertvollsten eigenen Bestrebungen bewusst wird, verinnerlicht man nun das Gesetz. Dies ist die Frucht der Erfahrung eines aufrichtigen Handelns. Man ist nun geneigt, dem Gesetz nicht mehr aus Zwang zu gehorchen, sondern aus innerem Antrieb, weil man es für erstrebenswert hält. Dabei können in uns bestimmte Schwächen und Reaktionen gegen das Gesetz durchaus fortbestehen. Man entdeckt, dass die Tugend nicht so sehr Anstrengung erfordert, sondern Freude bereitet. (Fs)

99d Die dritte Etappe des sittlichen Lebens ist jene der Reife und Selbstbeherrschung. Das Gesetz wird nun zum Instrument des erfinderischen und schöpferischen Geistes, durch den unsere Handlungen ihre vollständige moralische und spirituelle Dimension bekommen. In dieser Perspektive wird verständlich, warum Thomas von Aquin das Wort 'Gesetz' für die Gnade des Heiligen Geistes verwendet hat: Diese Gnade inspiriert den moralischen Fortschritt des Gläubigen und führt zu einer immer wieder neuen Vollkommenheit. Das Gesetz ist insofern mit der inneren Entfaltung der Weisheit und Güte identisch und bestimmt dessen Rhythmus. (Fs)

100a Das natürliche Sittengesetz ist dem Menschen unauslöschlich ins Herz geschrieben. Dies bedeutet nicht, dass man ihm nicht zuwider handeln könnte oder es nicht in Theorie oder Praxis leugnen könnte. Vielmehr ist damit gemeint, dass sich das natürliche Gesetz ständig im Streben nach der Wahrheit und dem Guten sowie im Bedürfnis für Gemeinschaft kundtut. Diese Bedürfnisse bilden verschiedene Stränge eines einzigen Bündels, nämlich des Strebens nach sittlichem Wert. Keine Lüge, kein Verbrechen und kein Versagen kann dieses ursprüngliche Lebensgesetz vernichten. So lang die Umwege auch sein mögen, das natürliche Sittengesetz setzt sich immer wieder auf die eine oder andere Weise durch. (Fs) (notabene)

100b Dieses Gesetz ist außerdem allgemeingültig wie der Verstand, dessen Tätigkeit es im Verborgenen erleuchtet und leitet. So unterliegt es beständig verschiedenen Kulturen und Gedankensystemen, in deren Vielfalt sowie in deren Entwicklungen. Es bietet allen Menschen eine gemeinsame Grundlage und fundamentale Kriterien moralischer Bewertung. Es kann daher die Lehre von den Menschenrechten auf eine solide Grundlage stellen, jenseits der Unterscheidungen zwischen Nationen, Rassen, Zeiten und Kulturen. Es ist hinreichend flexibel, um sich den unausweichlichen Unterschieden anzupassen und stark genug, um Einigungsprozesse und Erneuerungsbewegungen zu inspirieren. In der Tat muss die Ethik den Fortschritt fördern, wenn sie wirklich eine Wissenschaft vom Leben und Handeln sein soll. (Fs)

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