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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Die Neigung zum Leben in Gemeinschaft; Sprache, Struktur der Grammatik

Kurzinhalt: Die Freundschaft zwischen Menschen ist natürlicher als der Kampf und die Rivalität ... Hobbes; Gemäß der 'Freiheit für das Gute' hingegen gehört die soziale Dimension zur Natur des Menschen vermöge der Neigung, die ihn zu den anderen Menschen zieht.


Textausschnitt: 5. Die Neigung zum Leben in Gemeinschaft

95d Der Mensch wird gewöhnlich als gesellschaftliches Lebewesen« oder als 'politisches Lebewesen' aufgefasst, sofern er die Tendenz hat sich mit anderen Menschen zu vereinen. In diesem Sinne ist von der Neigung zum Leben in Gemeinschaft die Rede. Diese Neigung basiert zweifellos auf dem Bedürfnis der Menschen miteinander für die Notwendigkeiten des Lebens aufzukommen. Sie hat jedoch eine Grundlage, die tiefer liegt: den Sinn für den anderen, der sich in der Liebe, Zuneigung und Freundschaft entfaltet und der durch die entgegengesetzten Gefühle zugrunde geht. Die Freundschaft zwischen Menschen ist natürlicher als der Kampf und die Rivalität. Der Mensch ist nicht »des Menschen Wolf« (wie ein durch Thomas Hobbes berühmt gewordenes lateinisches Sprichwort sagt), er kann es jedoch werden. (Fs)

96a Das Zeichen dieser natürlichen Veranlagung, Gemeinschaft zu bilden, ist die Sprache. Im Gegensatz zu den Tieren, die bloß Schreie austauschen, hat der Mensch die Sprache entwickelt, durch die er Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse mitteilt und Regungen des Geistes und des Herzens äußert. Durch die Sprache kann er zum Ausdruck bringen, was gut oder böse, gerecht oder ungerecht ist. Das ganze Leben des Menschen kann in Sprache ausgedrückt werden. Die natürlichen Neigungen spiegeln sich sogar in der Struktur der Grammatik wider: Die Wahrnehmung des Guten drückt sich in wertenden Wörtern aus, infolge des Bewusstseins des Seins bildet man Substantive; die Wahrheit zeigt sich im Verb, das eine Aussage über Wahrheit oder Falschheit des Satzes macht; das Leben in Gemeinschaft bestimmt die erste, zweite oder dritte Person des Verbs und die Pronomina ich, du, er, sie, es, sowie Singular oder Plural. Man kann sogar eine Beziehung zwischen diesen Neigungen und den Sinnesorganen herstellen, sofern man dort eine gewisse Übereinstimmung feststellt. Man kann den Geschmackssinn auf das Gute beziehen: In der lateinischen Sprache ist Weisheit (sapientia) von Geschmack (sapor) abgeleitet. Der Gesichtssinn als das vortreffliche Organ der Erkenntnis steht mit der Wahrheit in Zusammenhang. Die Sprache ist auf das Gehör bezogen und der Tastsinn sowie der Geruchssinn bringen einen in Kontakt mit dem, was ist. Sie betätigen sich auch in der Sexualität. Man darf diesen Zusammenhang freilich nicht zu strikt auffassen; es kommt darin jedoch zum Ausdruck, wie sehr die Neigungen dem Menschen natürlich sind. (Fs)

96b Die Feststellung, dass dem Menschen die Neigung zum Leben in Gemeinschaft ganz ursprünglich zu Eigen ist, ist von großer Tragweite. Gemäß der Theorie der 'Freiheit der Willkür' hat das Individuum Priorität und zwar als jemand, der in sich isoliert ist und auf seine eigene Freiheit Anspruch erhebt. Die Erfüllung der Bedürfnisse stellt die Menschen in einen Gegensatz untereinander und bewirkt eine Rivalität, die die Existenz des Einzelnen gefährdet. Der Kampf steht hier an erster Stelle. Die ist dann ein künstliches Gebilde, das darin gründet, dass die Individuen einen Teil ihrer Macht an eine höchste Autorität delegieren. Diese Autorität - sie kann ein Monarch oder ein Staat sein - soll daraufhin den für alle unabkömmlichen Frieden erzwingen und garantieren. (Fs) (notabene)

97a Gemäß der 'Freiheit für das Gute' hingegen gehört die soziale Dimension zur Natur des Menschen vermöge der Neigung, die ihn zu den anderen Menschen zieht. Diese Neigung drückt sich in einer spontanen Liebe oder in einer Freundschaft aus, die verschiedene Formen annehmen kann, je nachdem, um welche Art von Gemeinschaft es sich handelt: Zuneigung innerhalb der Familie, persönliche Freundschaft, patriotische Einstellung, soziale Solidarität oder Zusammengehörigkeitsgefühl unter Kollegen und so weiter. Die Unterstützung durch die Gesellschaft, angefangen mit der Schulausbildung, ist für das Reifen der Freiheit unentbehrlich. Auch der unvermeidliche Streit zwischen den Menschen entspringt letztlich - obwohl er hart sein kann - aus dem natürlichen Verlangen nach Freundschaft, so wie im Körper Fieber entsteht, um Gesundheit zu bewirken. (Fs)

97b Die Neigung zum Leben in der Gesellschaft entfaltet sich durch die Tugend der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit kann man wie folgt definieren: ein fester Wille, jedem das Seine zu geben. Der Gegenstand der Gerechtigkeit ist das Recht (im objektiven Sinn), das durch das Gesetz ausgedrückt wird. Die Gerechtigkeit erstreckt sich auf den Austausch von Dingen auf familiärer, sozialer und nationaler Ebene. Zur Tugend der Gerechtigkeit gehört auch die Beziehung mit Gott, das heißt die Religion. Der Gerechtigkeit kommt also allgemeine Bedeutung zu. Die Regel oder der Maßstab für die Gerechtigkeit ist das Erreichen einer gewissen Gleichheit (im absoluten oder im relativen Sinn) in den verschiedenen Formen von Austausch. Als Ziel hat die Gerechtigkeit Harmonie und Frieden. (Fs)

97c Die Gerechtigkeit wird von der Freundschaft übertroffen. In der Freundschaft finden die menschlichen Beziehungen ihre volle Entfaltung; sie werden viel persönlicher, sofern sie in ihr durch gegenseitiges Wohlwollen, Freiheit und Gleichheit gekennzeichnet sind. (Fs)

98a In theologischer Hinsicht ist die Liebe (caritas) die Tugend, die die Beziehungen in jener Gesellschaft beseelt, die zugleich geistlicher und institutioneller Natur ist: in der Kirche. Auch hier kann man deutlich zwischen zwei verschiedenen Konzeptionen unterscheiden: Die 'Freiheit der Willkür' leistet der Machtkonkurrenz Vorschub sowie der Entgegensetzung von individueller Freiheit und Institutionen. Die 'Freiheit für das Gute' strebt hingegen vor allem nach Koordination und Zusammenarbeit und nach der Entfaltung der Kirche als harmonischer Leib. (Fs)

98b Soweit dies möglich ist, haben wir zu zeigen versucht, wie das natürliche Sittengesetz nicht im Namen eines fremden Willens dem Menschen von außen auferlegt ist. Es ist vielmehr ein inneres Gesetz, das wir von Geburt erhalten haben. Gott hat es dem Menschen bei seiner Gott ebenbildlichen Erschaffung ins Herz geschrieben. Die Gebote des natürlichen Gesetzes können natürlich in einen Stein graviert oder in Büchern aufgeschrieben werden. Das Wesentliche ist aber, dass das Naturgesetz den Bestrebungen unserer Seelenvermögen entspricht. Es handelt sich auch keineswegs um ein statisches Gesetz, selbst wenn es in seinen Vorschriften einschränkende Formulierungen verwendet. Es ist wesenhaft dynamisch, wie die Tugenden, die es in uns erweckt. (Fs)

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