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Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Das Neue Gesetz; materielle Elemente: Bergpredigt -> "Gesetz der Freiheit" aus drei Gründen (Thomas)

Kurzinhalt: Thomas von Aquin zögert nicht, die Bergpredigt als den spezifischen Text des Neuen Gesetzes zu charakterisieren, der dem Dekalog als spezifischen Text des Alten Gesetzes entspricht.

Textausschnitt: Die materiellen Elemente des Neuen Gesetzes

80a In einem grandiosen Text, der vom Prolog des Johannesevangeliums inspiriert ist, vollendet Thomas von Aquin seine Lehre vom Neuen Gesetz, indem er aufzeigt, wie die Gnade des Heiligen Geistes für uns aus der Person Jesu fließt, des Mensch gewordenen Gottes. Demzufolge muss das Neue Gesetz, wie Thomas deutlich macht, außer den erwähnten geistigen Elementen auch sinnliche Elemente aufweisen, die diese Gnade gewissermaßen in Fleisch einkleiden, um sie uns mitzuteilen. Zudem muss es konkrete Taten beinhalten, die uns seines Werkes teilhaftig werden lassen. Obwohl wir geistige Geschöpfe sind, sind wir doch keine reinen Geister; wir benötigen greifbare Zeichen, um das Wort Gottes annehmen zu können. Wir vernehmen es mit den Ohren und den Augen, durch die Predigt sowie das geschriebene Wort, und wir müssen es mit unserem Leib in die Tat umsetzen. Der Sohn Gottes selbst ist diesen Weg in ganz unerwarteter Weise gegangen, indem er Mensch wurde und am Kreuz gestorben ist. Die Gnade des Heiligen Geistes erreicht uns ebenso durch materielle Dinge: durch Bücher, besonders die Bibel, deren Lehre der Moral in der Bergpredigt gipfelt; durch geweihte Gegenstände und bestimmte Gesten, nämlich die Sakramente und die Liturgie, in der sie gespendet werden (Summa theologiae I-II, q. 108, a. 1). (Fs)

Die Bergpredigt als Text des Neuen Gesetzes

80b Der Bergpredigt verleiht der Herr selbst Autorität; daher wurde sie in der Tradition der Kirchenväter als die wichtigste Quelle der Moralkatechese aufgefasst und die meisten geistigen Erneuerungsbewegungen waren und sind direkt von ihr inspiriert. Thomas von Aquin zögert nicht, die Bergpredigt als den spezifischen Text des Neuen Gesetzes zu charakterisieren, der dem Dekalog als spezifischen Text des Alten Gesetzes entspricht. (Fs)
81a Die Bergpredigt darf jedoch nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss vielmehr als Brennpunkt und Gipfel der Morallehre der Heiligen Schrift und besonders des Neuen Testaments angesehen werden. Man muss sie daher im Zusammenhang mit dem ganzen Evangelium, dessen Teil sie ist, interpretieren. (Fs)

81b Es gilt darüber hinaus zu beachten, dass die Bergpredigt nicht allein für das private moralische Leben bestimmt ist. Wie die Evangelien richtet sich die Bergpredigt an die kirchliche Gemeinschaft, zu deren Aufbau sie beiträgt. Man kann auch sagen, dass die Bergpredigt der Kirche ihre grundlegende Verfassung gibt: Sie ist eine erste Grundlage für die kirchliche Gesetzgebung und ebenso für die Ordensregeln oder Konstitutionen der religiösen Gemeinschaften, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt haben. (Fs)

81c Allerdings ist sie kein Gesetzestext wie jeder andere, eben deshalb, weil sie das Werkzeug des Heiligen Geistes in seinem Werk der Rechtfertigung und Heiligung ist. Von seiner materiellen Seite her kann der Text der Bergpredigt den Menschen nicht mehr rechtfertigen und heiligen als der Dekalog; in gewisser Sicht ist er dafür sogar weniger geeignet, da seine Forderungen so groß sind, dass sie als nicht ausführbar erscheinen. Wenn aber die Gnade des Heiligen Geistes durch den Glauben und die Liebe wirkt, zeigt sich die Bergpredigt als privilegiertes Instrument für dieses Wirken. Sie beschreibt in der christlichen Erfahrung die Wege der geistigen Befreiung und wird zu Recht 'Gesetz der Freiheit' genannt. (Fs)

81d Diese bemerkenswerte Bezeichnung, die Thomas von Aquin für das Gesetz des Evangeliums verwendet, ist aus drei Gründen berechtigt:

1. Die Bergpredigt fügt den Geboten des Dekalogs keine neuen Vorschriften hinzu. Vielmehr befreit sie uns von vielen äußerlichen Weisen, das jüdische Gesetz zu befolgen, und behält nur die wesentlichen Weisungen bei, um unsere Bemühung und Aufmerksamkeit auf die Ebene des Herzens zu lenken, wo sich mit Hilfe des Glaubens und der Liebe die Tugenden entfalten. Wegen dieser Konzentration auf das Wesentliche, zu der auch Flexibilität hinzukommt, bereitet die Bergpredigt der spirituellen Reife den Weg und fördert diese. (Fs)
2. Durch die Bergpredigt gelangen wir zu einer neuen Dimension der Moralität. Die Beziehungen, die sich im Normalfall auf der Grundlage des Gesetzes entwickeln, gleichen jener zwischen Herr und Knecht, für die der Gebrauch des Imperativs typisch ist und die bestimmte Strafen für den Fall vorsehen, dass der Untergebene den Befehlen nicht nachkommt. Demgegenüber stiftet das Neue Gesetz eine Beziehung der Freundschaft mit dem Herrn, gemäß seinen Worten:

Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe (Joh 15,15).

82a In einer Freundschaft sind Imperative und Befehle nicht mehr angebracht. Die Freunde gehen miteinander auf persönlichere Weise um und anstelle von Anordnungen verwenden sie eher Ratschläge oder Ermahnungen (wie zum Beispiel die 'Paraklese' der Apostel). Genau darin unterscheidet sich das Neue Gesetz von anderen Gesetzen: Außer Geboten enthält es auch Evangelische Räte, die sich an die persönliche Initiative des Einzelnen richten und deren Befolgen uns durch die Tugenden und die Geistesgaben erleichtert wird. Das Ziel der Bergpredigt ist daher, uns zum Gebrauch unserer geistigen Freiheit zu erziehen. Diese Freiheit entwickeln wir in den Freundschaftsbeziehungen mit dem Herrn und mit unseren Brüdern und Schwestern, die uns durch die Liebe möglich werden. Der heilige Paulus spricht von der Freiheit der Kinder Gottes im Haus seines Vaters im Unterschied zu den Sklaven und den Minderjährigen (Röm 8, 14-17; Gal 4, 1-7). (Fs)

82b Die Evangelischen Räte richten sich an alle Christen, an jeden gemäß seiner Lebensumstände und seiner Berufung. Später hat man sie auf die drei Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams konzentriert, die das Leben der Gottgeweihten tragen, dessen Bestimmung die Vollendung der Liebe und das Zeugnis für das Evangelium und für die ganze Kirche ist. (Fs)

3. Man kann die Bergpredigt unmöglich aus Zwang oder aus Pflicht erfüllen. Sie wird nur auf dem Wege der Liebe praktizierbar, die im Mittelpunkt der Lehre der Bergpredigt steht und die die erste Gabe des Heiligen Geistes ist. In dieser Liebe werden wir frei, denn sie lässt uns aus eigenem Antrieb handeln, aus einem spirituellen Hang, in Nachahmung Christi und entsprechend den Anregungen des Geistes. Eine solche Freiheit können wir allerdings nur erfahren, wenn wir die Loslösungen und Reinigungen annehmen, die für die Befreiung von unseren egoistischen Instinkten notwendig sind und durch die wir lernen, wahrhaft zu lieben. Dies vollbringen unter anderem die Seligpreisungen, die uns von der Armut und Demut zur Reinheit und zum Frieden führen und durch die wir ein Herz bekommen, das ganz und gar gegenüber dem Geist fügsam ist. (Fs)

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