Datenbank/Lektüre


Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität als Konsum 2; neue Form der Herrschaft (Paul Tillich); Erziehung zur Anpassung

Kurzinhalt: So kommt es zu dem an sich paradoxen Verhältnis, daß heute gerade der Bereich, in dem sich das Individuum anscheinend frei auslegt und auslebt, ... fast im stärkeren Maße die Verhaltensweisen vereinheitlicht und stereotypisiert ...

Textausschnitt: 122a Damit wird ein zweiter Zug des sexuellen Genuß-Verhaltens deutlich: seine Kurzfristigkeit und Punktualität. Die Abtrennung der langfristigen Persönlichkeitschancen von der sexuellen Beziehung, die Überschätzung des gegenwärtigen Vollzugsgenusses durch Mangel an persönlicher Kontinuität, verraten die Entwertung der sexuellen Beziehung zu einem Unterhaltungsgut, zu einem Mittel der Zerstreuung, das schnell zuhanden, aber auch schnell erledigt sein soll. <Die heutige Jugend neigt dazu, die physische Liebe als etwas an sich Erstrebenswertes zu betrachten. Kaum daß sich ein erotisches Gefühl regt, wird es auch schon auf das rein Physische verschoben; man verlangt, daß sich der Körper auf den kleinsten Anreiz hin zur Verfügung stellt. Dadurch wird aber die Triebenergie vertändelt. 'Alles wird an die Stichlinge verschleudert', wie der Chinese sagt> (E. Harding, 83, S. 316). (Dieser Tendenz der Vertändelung der erotischen Impulse im Kleinkonsum widerspricht nicht eine Neigung der Jugend zu früher partnerschaftlicher Bindung und Heirat, da diese gerade auf dem Zurücktreten der Bedeutung der Sexualität für die Partnerbindung beruht.) So wird die in der geschlechtlichen Beziehung liegende Aufforderung zur gegenseitigen Intimität der Person immer flüchtiger ausgeschöpft und bleibt oberflächlicher, sich wandelnd in ein Bedürfnis nach schnellem Wechsel grober und doch flacher Sensationen. Gegenüber den Extremen des klassengesellschaftlichen Sexualitätshabitus, der von Innerlichkeit und Idealität erfüllten Liebe auf der einen und der Käuflichkeit prostituierter Liebe auf der anderen Seite, spielt sich heute das Nivellement der von einigen genußsteigernden Erlebnistönen und Gefühlchen begleiteten, leicht einzugehenden, aber auch häufig gewechselten, verhältnismäßig wahllosen geschlechtlichen Beziehung als der breite Weg des typischen Durchschnittsverhaltens ein. Seine Gleichstellung mit anderen Arten des konsumtiven Freizeitverhaltens, mit dem ebenso unverbindlichen Verbrauch sonstiger Bildungs-, Unterhaltungs- und Sensationsgüter, scheint mir unverkennbar zu sein. (Fs)

123a Diese Freistellung der Sexualität von schwerwiegenden persönlichen und sozialen Folgen zu verhältnismäßig großer persönlicher Beliebigkeit und Leichtfertigkeit hat zu der zunächst bestechenden These geführt, die Art der modernen sexuellen Beziehungen müsse wesentlich als Spiel begriffen werden und es sei auch die bevorzugteste Form des Spielerischen für Millionen von Menschen geworden (N. Foote, 81); dies erkläre auch, weshalb sich heute die Sexualität wie jede Art von Spiel von der Verbindlichkeit des Ernstes auf anderen Lebensgebieten emanzipiere und isoliert ihre eigenen Spielregeln, Werte und Moralität entwickele, denen sich dann alle Teilnehmer an diesem Spiel freiwillig unterwerfen. Ich glaube nicht, daß diese Deutung den Kern der für unsere Zeit typischen Sexualität richtig trifft: Diese hat den Charakter eines echten Spieles mindestens genau so verloren wie z. B. das Fußballspiel, wenn es durch Massenpublikum und nationale oder regionale Leidenschaften, durch Berufsspielertum und Totospekulation zu einem bitter ernst genommenen Konsumgut für modernen Sensationshunger geworden ist. Sexualität als Spiel, das heißt schließlich: sich einlassen auf die Kultivierung der Formen der Werbung und der vielfältigen menschlichen Kontakte der Geschlechter, heißt <Flirt> als gesellschaftliches Umgangszeremoniell, als geistvolle und gefühlsraffinierte Kommunikationsfähigkeit, alles Formen sublimer Leichtigkeit in der Beziehung der Geschlechter, die letztlich darauf beruhten, daß man das Endziel nicht zu wichtig nahm und geradezu in der Abwendung davon die Vorbereitungen darauf zu einem raffinierten, ästhetisch befriedigenden Spiel ausgestaltete. Diese Form der erotischen Beziehung gehörte anderen, vergangenen Gesellschaftssystemen an. Heute muß man geradezu einen Abbau der Kultivierungen und erotischen Durcharbeitung der Sexualität zugunsten eines immer massiveren Interesses am bloßen sexuellen Vollzug konstatieren, ja, <eine Abneigung dagegen, mehr an emotionalem Kapital zu investieren, als unbedingt sachgerecht ist< (Bürger-Prinz). (Fs)

124a Vor allem aber bedeutet die Leichtfertigkeit und Flüchtigkeit der heutigen sexuellen Beziehungen keineswegs ihre innere Gelockertheit und spielerische Hingegebenheit; die festgestellte Angleichung an die Konsumverhaltensweisen sagt fast das Gegenteil aus; denn: Konsum wird heute ernst genommen. So wie der scheinbar frei und beliebig wählende Verbraucher längst unter der Rute des Absatzterrors will, wie er muß, und den Anschein seiner Freiheit vorgeplant in ein dirigiertes Geschäft einbringt, so ist die sexuelle Lustsuche längst zu einer unersetzlichen Methode persönlicher und sozialer Daseins- und Selbstbestätigung geworden und damit weit entfernt von der Heiterkeit des Spiels. Daher gebe ich Riesman recht, wenn er sagt: <Sex today carries too much psychic freight tobe really funny ... By a disguised asceticism it becomes at the same time too anxious a business and too sacred an illusion> (90, S. 175). (Fs)

124b Diese Unersetzlichkeit der Sexualität als eines Vehikels persönlicher Selbstwertbestätigung hängt eng mit der Gesamtstruktur unserer Gesellschaft zusammen: So wie die Versachlichung und Entpersönlichung der Arbeits- und Produktionsformen im allgemeinen den privaten Lebenssinn immer mehr aus der Berufswelt heraus in die Freizeit und den Konsum drängt, so wird die sexuelle Lustsuche dank ihrer unaufhebbaren Reste an persönlicher Initiative, an Intimität, an Sensation und Nervenkitzel und schließlich vor allem an Geheimnis und Irrationalität zu der verfügbarsten Kompensation für die disziplinierte Abhängigkeit und Dirigiertheit, die sachliche Monotonie und Rationalität der Arbeitswelt, ja des gesamten organisierten Daseins. Man hat nicht zu Unrecht als den psychischen Grundzug der gegenwärtigen Zeit <das Vorhandensein einer ungewöhnlich hohen Anzahl von Personen mit einer abhängigen und zugleich lustsuchenden Art des Charakters> (Taylor, 94, S.288) festgestellt; macht man sich klar, in welchem Maße diese personverarmende innere Abhängigkeit von kollektiven Zwängen und die kompensatorische Lustsuche eben in der von uns geschilderten Art des sexuellen Verhaltens kulminieren, so hat man den strukturellen Zusammenhang der zeittypischen Sexualität mit der modernen Funktionär- und Verbrauchergesellschaft erkannt. In der allgemeinen Durchorganisiertheit und Versachlichung bietet die noch so verflachte sexuelle Beziehung und Sensation doch so etwas wie ein letztes persönliches Abenteuer, einen Ausweg gegenüber der Apathie der Rationalität in eine Ahnung elementarer Kräfte oder in die Beruhigung und den Ausgleich der disziplinären Spannungen durch einen, wenn auch flüchtigen Rausch. So kann man sagen, daß <ein großer Teil der sexuellen Betätigung heutzutage, statt aus einem echten Geschlechtstrieb zu stammen, mehr ein Ausweg für seelische Spannungen ist und daher anstelle eines echten sinnlichen Genusses oder Glücks eher für ein Beruhigungsmittel gehalten werden muß> (Horney, 59 b, S, 156), was wiederum für alle Konsumverhaltensweisen und -Steigerungen heute zutrifft. (Fs) (notabene)

125a So kommt es zu dem an sich paradoxen Verhältnis, daß heute gerade der Bereich, in dem sich das Individuum anscheinend frei auslegt und auslebt, nämlich auf dem Felde des individuellen Freizeitkonsums, fast im stärkeren Maße die Verhaltensweisen vereinheitlicht und stereotypisiert als die zur verengenden Spezialisation zwingende Arbeits- und Berufswelt. Die Methode, diese Konformität zu erzeugen unter scheinbarer Zugestehung von Individualität und Wahlfreiheit des Verhaltens, besteht darin, das Angebot bestimmter Verhaltensformen unausweichlich zu machen; diese Einsicht hat kürzlich Paul Tillich treffend formuliert: <Die westliche technisierte Gesellschaft hat zur Anpassung der Personen an ihre Forderungen in Produktion und Konsumtion Methoden hervorgebracht, die weniger brutal, aber auf die Dauer wirksamer sind als die totalitäre Unterdrückung. Sie entpersönlichen nicht durch Befehl, sondern durch Bereitstellen - Bereitstellen dessen, was individuelle Kreativität überflüssig macht... Das beginnt mit der Erziehung zur Anpassung, die gerade dadurch Konformität erzeugt, daß dem Kind weitgehend mehr Spontaneität zugebilligt wird als in irgendeiner vorindustriellen Zivilisation. Die Spontaneität wird stillschweigend in einem bestimmten Rahmen gehalten, der zu einer spontanen Anpassung führt, die viel gefährlicher für die schöpferische Freiheit ist als jeder offen deterministische Einfluß> (95). (Fs)

125b Dies ist nun genau der Mechanismus, mit dem die westliche Zivilisation auch die unerhörte Konformität zeittypischer sexueller Verhaltensweisen erzeugt: durch aufdringliches Bereitstellen unausweichlicher Triebphantasmen. Man hat sich oft gestritten, ob unsere Zeit eigentlich einen hohen Grad an Erotisierung zeige oder nicht; die Bejaher dieser Ansicht konnten für ihre Behauptung auf die Allgegenwärtigkeit erotischer Bilder in der modernen Publizität und Propaganda, auf die offenherzigste Ausbreitung sexueller Anreize in Illustrierten, Kinos, Schlagermusik, Reklamebildern, Fernsehschirmen und sonstwo hinweisen. Die Frage, ob das eine Erotisierung schlechthin bedeutet, erscheint mir belanglos gegenüber der Einsicht, daß durch diese im Dauerdruck moderner Massenkommunikationsmittel aufgedrängten erotischen Bilder und Klischees die im Individuum entspringende Triebphantasie bis zu Untätigkeit entlastet und also in Wirklichkeit gehemmt wird. Man kommt der individuellen erotischen Einbildungskraft zuvor, indem man ihr zur Übernahme und zum Gebrauch mehr anbietet, als sie im Durchschnitt von sich aus überhaupt aufzubringen vermocht hätte. Die Folge ist eine Erotisierung, besser sogar Sexualisierung des modernen Menschen von außen, eine Daueraktualisierung sexueller Impulse durch die Gesellschaft ohne eigentlichen Triebdruck vom Individuum her und mit der Konzession weitgehender Phantasie- und Gefühlsträgheit. Die <Seele> wird mitgeliefert. Über den Weg der publizistischen Massen-Produktion werden wohl-standardisierte Gefühle so universal angeboten und bereitgestellt, daß sie bald als Massenbedürfnis empfunden und im Massenkonsum verbraucht werden. Dies muß man bedenken, wenn man darauf hinweist, daß heute die Sexualität insbesondere in den breiten Bevölkerungsschichten <gemütsgetragener und zärtlichkeitsumflossener, <verinnerlichter> und also erotisierter sei als die <nackte> Sexualität älterer Generationen (so z. B. Undeutsch, 97); dies ist im Tatbestand an sich richtig, aber es sind eben weitgehend öffentlich bereitgestellte Gefühle, die die Menschen von der Aufgabe, ihre Sexualität mit eigener Gefühlsursprünglichkeit zu erfüllen, gerade weitgehend befreien. In dieser Einsicht schließt sich zugleich der Bogen der Betrachtung, indem die Identität dieses Vorganges der konsumtiven Bereitstellung standardisierter sexueller Verhaltensweisen und Reize mit der früher geschilderten Kon-ventionalisierung der Seele durch die ebenso freigebig popularisierte psychologische Selbstdeutung wohl deutlich wird. (Fs)

Zum Abschluß dieser Analyse des zeit- und gegenwartstypischen Charakters der Sexualität seien noch zwei Gedanken vorgetragen: Zunächst muß man wohl darauf hinweisen, daß es auch heute vielerlei andere Arten von Geschlechts- und Liebesbeziehungen gibt, als die hier als zeittypisch dargestellten. Schon die Diagnose wäre unmöglich, wenn dies nicht der Fall wäre. Es hieße den Begriff des Zeit-Charakters der Sexualität überfordern, wenn man alle Erscheinungsweisen eines menschlich so ursprünglichen Verhaltensbereiches wie der Geschlechtlichkeit darin einfangen wollte. Aber umgekehrt scheint es uns deutlich, daß keine anderen Formen des sexuellen Verhaltens in dem Maße die Tendenz zur gegenwartstypischen Durchschnittlichkeit und den prägenden Einfluß der gegenwärtigen Sozialverfassung aufweisen als die von uns geschilderten. (Fs)

127a Schließlich bedarf es noch eines Hinweises darauf, daß der kritische Ton in der Darstellung des Zeitcharakters der Sexualität nicht mit Pessimismus verwechselt werden sollte. Die breite gesellschaftliche Abhängigkeit und Durchformung der Sexualität, die soziale Standardisierung und Konventionalisierung der sexuellen Verhaltensweisen stellen zweifellos nicht die Höhen der Personalität dar, die als Ansinnen und innerer Auftrag im Verhältnis jedes Menschen zu seinen Trieben liegen; daher der kritische Ton jeder Tatbestandsfeststellung in dieser soziologischen Schicht des Verhaltens. Auf der anderen Seite erscheint mir diese Konventionalisierung und soziale Durchformung des geschlechtlichen Verhaltens erst einmal notwendig, um überhaupt sittlichen und personbildenden Impulsen höherer Art eine auch nur einigermaßen breite und verbindliche Grundlage zu schaffen. Nichts hat die Menschen im Verhältnis zu ihren Trieben mehr überfordert als das Ansinnen, unmittelbar Person und Individualität sein zu sollen. So verbinden wir mit der Schilderung der heute wiederum sehr weitgehenden Konventionalisierung und gesellschaftlichen Normierung der Sexualität durchaus die Überzeugung, daß erst auf diesen Tatbestand hin sich wieder die Chance einer neuen Verbindlichkeit von Geist, Kultur und Sittlichkeit gegenüber der Geschlechtlichkeit des Menschen eröffnet. In welchen Formen dies geschehen kann? - Wir haben nicht die Absicht, den Appell, den die Feststellung der Tatsachen in sich trägt, durch soziologische Deduktionen und Spekulationen von Zukunftsentwicklungen abzuschwächen.

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt