Datenbank/Lektüre


Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität; Konventionalisierung, Konvention 4; Typisierung des Originellen und Individuellen

Kurzinhalt: Es gibt heute so etwas wie die Originalität von der Stange, wofür der Existenzialismus als Mode das beste Beispiel ist. In ähnlicher Weise wird auch heute der Individualitätsanspruch der Liebe konventionell in Scheinoriginalitäten umgesetzt ...

Textausschnitt: 115a
4. Über die Konventionalität dieser Fremd- und Selbstdeutungen täuscht häufig ihr auf den ersten Blick vielfältig und hoch variabel erscheinender Inhalt, aber die Potenzierung der Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten des modernen Menschen verhindert keineswegs ihre Stereotypisierung. Im Gegenteil: das Originelle und Individuelle wird selbst sterotyp und konventionell. <Es gibt in unserer Kultur so etwas wie eine 'rollengemäße Individualität'. Das ist vielleicht eine der erstaunlichsten Selbstverständlichkeiten unserer Kultur> (P. Hofstätter, 57, S. 205). Diese sozial <aufgedrungene Originalität in der Gestaltung der eigenen Rolle> (ebd. S. 78) stellt eine der Überforderungen und Belastungen des modernen Menschen dar, die aus dem Verfall der alten Institutionen und bindenden sozialen Formen entstanden sind; in der Beziehung der Geschlechter bezeugt etwa die Forderung auf den einmaligen Leidenschafts-Charakter jeder Liebesbeziehung, auf die der Konventionalität enthobene <echte Liebe>, diesen universal gewordenen Individualitätsanspruch. A. Gehlen hat mit Recht gegenüber dem billigen Gerede von der Uniformierung des Massenmenschen darauf hingewiesen, daß die Gesellschaft heute wie nie zuvor eine ungeheure Mannigfaltigkeit an Geschmacks-, Wertungs- und Meinungsvarianten zulasse, daß unter der Decke einer großorganisatorischen Konformität die starke Ausfaltung individuell-psychologischer Eigenschaftlichkeit stecke (<Mensch trotz Masse>, 55 e), und in der Tat hat es wohl nie eine zivilisatorische Situation gegeben, in der dem einzelnen die kulturellen Gehalte der ganzen Welt und Vergangenheit für eine Verlebendigung in seiner Individualität so offengelegen hätten wie heute. Aber eben die Tatsache, daß dieser Anspruch an jeden gestellt wird, bedingt die Konventionalität seiner Erfüllung: Indem die Massenproduktion von Unterhaltungs- und Gebrauchsgütern das individualistische Bedürfnis im Prinzip der <Kleinstspannendifferenzierung> berücksichtigt - Vielfältigkeit des Oberflächenmusters bei genormten Gegenständen -, erlaubt sie, die sozial angesonnene [eg: sic] Originalität und Individualität im Vorhof der Person zu erledigen. Es gibt heute so etwas wie die Originalität von der Stange, wofür der Existenzialismus als Mode das beste Beispiel ist. In ähnlicher Weise wird auch heute der Individualitätsanspruch der Liebe konventionell in Scheinoriginalitäten umgesetzt: Das zur Sentimentalität nivellierte Bedürfnis nach seelischer Tiefe und das fast ausnahmslose Jagen nach sexuellen Sensationen sind solche konventionell gewordenen Beruhigungsmechanismen des als Individualität überforderten Zeitgenossen, deren Gebrauch, von den verschiedensten Organisationen der Gesellschaft freigebigst angeboten, ja aufgedrungen, kaum noch zu vermeiden ist. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt