Datenbank/Lektüre


Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität; Konventionalisierung, Konvention 3; Selbstverständnis: psychologisch typisiert; fehlender Normgehalt psychologischer Erkenntnisse (Gehlen)

Kurzinhalt: ... tritt mit ihrer konventionellen Selbstdeutungsfunktion eben der Tatbestand einer völligen Triebgebundenheit des Handelns mit konventioneller sekundärer Rationalisation als eine durchgängige Erscheinung unseres gesellschaftlichen Verhaltens auf.

Textausschnitt: 114a
3. Wie die Fremddeutung so wird natürlich auch das Selbstverständnis des modernen Menschen über die Psychologie und ähnliche Wissenschaften konventionell und wird so sozial stereotypisiert. Auch zu sich selber gewinnt der Mensch heute in breitem Ausmaße nur noch in der psychologischen Reflexion Distanz, da das direkte Motivverständnis an sozialen, moralischen oder religiösen Wertmaßstäben immer mehr zurücktritt. Da aber die psychologischen Erkenntnisse, worauf Gehlen (55 a, S. 33 f.) hinweist, niemals echte Motive des Handelns werden können, weil ihnen der Normgehalt abgeht, tritt mit ihrer konventionellen Selbstdeutungsfunktion eben der Tatbestand einer völligen Triebgebundenheit des Handelns mit konventioneller sekundärer Rationalisation als eine durchgängige Erscheinung unseres gesellschaftlichen Verhaltens auf. Kardiner hat diese Beziehung für das sexuelle Verhalten richtig erkannt, wenn er das Bedürfnis nach geschlechtlichem Ausleben, die <Sittenlosigkeit>, als den primären und dauerhaften Tatbestand, ihre Begründung als sekundär und in den Zeiten wechselnd bestimmt: Noch im 1. Weltkrieg hätte die Motivation gelautet: <The boys are going to France to die. The last you can do is ...>; nach dem Kriege sei dann die pseudo-freudsche Einsicht von der <gesundheitsschädigenden Unterdrückung sexueller Bedürfnisse> populär geworden und heute biete Kinsey neue Möglichkeiten der sekundären Rationalisation (60 b, S. 79 f.). So dienen abgeplattete tiefenpsychologische Theoreme und Formeln als stereotype Auffangsysteme des Selbstverständnisses insbesondere für die Schwierigkeiten, die die Menschen mit ihrer Sexualität haben; die therapeutische Analyse wird zum gesellschaftlichen Ritual (so sehr, daß z. B. auf einer internationalen Tagung abgelehnt wurde, mit Leuten überhaupt zu diskutieren, die nicht analysiert seien!), das Bekenntnis zu bestimmten Theorien zu sozial verbindlichen Glaubensformen mit all ihren Folgerungen der sozialen Diffamierung Andersdenkender, der kritischen Unangreifbarkeit durch Tatsachen usw. Bürger-Prinz weist darauf hin, daß heute der Kranke seine Beschwerden bereits in der Form pseudo-wissenschaftlicher Deutung vorzutragen pflegt und daß diese Form des Selbstverständnisses völlig der Stereotypie und Konventionalität der öffentlichen Meinungsbildung entspricht: <So wie ein politisches Geschehen bei besonderen Ereignissen bestimmte Motivationsreihen sofort auftauchen läßt, so sicher erscheinen jetzt bei Anamnesen die völlig durchtypisierten Formulierungen vom Verhältnis zu Vater oder Mutter, oder zwischen den Geschwistern, oder von Gehemmtheiten, oder von angstbetonten Sperren usw. bis hin zu den Formeln von Einheit von Leib und Seele, von Ganzheit usw. Dies alles ist völlig zu einem 'zuhandenen' Jargon abgesunken (47 g, S. 541, vgl. a. S. 546). Die Konventionalisierung der Triebhaftigkeit gebiert ebenso konventionelle Selbstdeutungen des Menschen und schafft neue Möglichkeiten eines durchaus zeremoniellen Verhaltens zu sich selbst. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt