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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität; Konventionalisierung der Seele; Anpassung des Menschen an die Psychologie; Konvention 1; Kinsey

Kurzinhalt: Konventionalisierung der Seele durch Popularisierung der Psychologie ...der Mensch als lustsuchendes und lustberechtigtes Wesen

Textausschnitt: 110a Aber all diese bewußte Planung und Organisation der menschlichen Verhaltensformierung erscheint mir doch insofern oberflächlich, als sie kaum bemerkt, daß in tieferen Reaktionsschichten, als sie die professionelle Anwendung wissenschaftlicher Ergebnisse erreicht, die popularisierte Psychologie bereits selbst zur sozialen Funktion geworden ist. Der moderne Mensch hat sich nämlich bereits der Psychologie angepaßt, und zwar in einem viel fundamentaleren Sinne, als umgekehrt überhaupt geschehen kann. In Ergänzung zu den von Gehlen beschriebenen Vorgängen der Freisetzung der Seele durch Abbau des konventionellen und zeremonialisierten Verhaltens, der Distanzlosigkeit des Menschen zu seinen Antrieben und Affekten und zu denen der anderen, der Differenzierung und Kultivierung seiner Innenwelt usw., müssen wir jetzt bereits, so glaube ich zu sehen, gegenläufige Prozesse1 feststellen, in denen die Psychologie fast alle die Funktionen und Leistungen zu übernehmen beginnt, die von den schwindenden institutionellen Regelungen und Ordnungen nicht mehr erfüllt werden. Wir möchten diesen Vorgang die Konventionalisierung der Seele durch Popularisierung der Psychologie nennen. In einem viel breiteren Umfange und mit intensiverer Tiefenwirkung, als es je einer bewußten und organisierten psychologischen Beeinflussung gelänge, hat die psychologische Selbst- und Fremddeutung des modernen Menschen eben die Rolle der ritualisierenden, Symbole bietenden, distanzierenden und typisierenden, Norm und Gleichförmigkeit prägenden Kraft im sozialen Leben übernommen, deren Rückzug aus den alten Institutionen sie ihre und ihres Gegenstandes Entstehung verdankt. So muß man aber auch feststellen, daß der wissenschaftliche Erkenntniswert der Psychologie heute fast belanglos geworden ist gegenüber ihrer Bedeutung als gesellschaftlicher Funktion selbst und daß die Psychologen in einem sehr tiefgründigen Sinne damit zu Funktionären und Agenturen der Gesellschaft geworden sind. (Fs) (notabene)

111a Diese Vorgänge sind wohl nirgends deutlicher zu beobachten als im Verhältnis des modernen Menschen zu seiner Sexualität. Wir wollen einige dieser gesellschaftlich funktionalen Wirkungen der Psychologie auf dem Gebiete des geschlechtlichen Verhaltens hier aufzählen und umreißen und damit eben jene Konventionen zu treffen versuchen, die einen wesentlichen Zug des sozialen Zeitcharakters der modernen Sexualität ausmachen. (Fs)

l. Die wichtigste soziale Konvention, die die Psychologie durchsetzen half und aufrechterhält, ist die Selbstverständlichkeit, mit der sich heute der Mensch als lustsuchendes und lustberechtigtes Wesen versteht. Insbesondere in der Sexualität wurde die <vollkommene Liebe> zu einer Normalforderung, die praktisch sehr bald in einen allgemeinen Anspruch auf kurzfristige Glücksgefühle durch Orgasmus und sexuelle Potenz denaturierte. Diese Isolierung der Sexualität auf ihre Lustkomponente ist als Tiefenwirkung eines biologisch-psychologischen Menschenbildes anzusehen, das, schon in der <Lebens>philosophie eines Nietzsche und Bergson beginnend, vor allem in der Popularisierung der Lehre Freuds und solcher Aufklärungswellen wie der Kinseys seine im einzelnen durchaus wechselbaren sekundären Rationalisierungen gewinnt. Die soziale Konvention liegt also in der Ablösung der Sexualität von anderen, insbesondere sozialen Lebensgebieten: <Zu einer Zeit, wo orgastische Potenz der Hauptgesichtspunkt des Strebens nach Glück ist, hat man ihre Bedeutung für die Gesellschaft als Ganze vergessen> (Kardiner, 60 b, S. 23). Daß neben dem wirtschaftlichen vor allem der sexuelle <Erfolg> zu einem von der gesellschaftlichen Konvention an alle gestellten Lebensanspruch geworden ist, hat man in letzter Zeit besonders für die nordamerikanische Gesellschaft öfters bemerkt; so stellt z. B. L. Keonenberger in einer klugen, kritischen Analyse des amerikanischen Charakters (85) fest, <daß der Sexus seil einem Menschenalter gewissermaßen zur Richtweise unseres Lebens geworden ist. Nur wer ihn hat, gilt als voll entwickelt und muß sich doch zu= gleich der Gefahr, die darin liegt, erwehren. Als die Amerikaner sich nicht mehr länger schämten, ein Geschlecht zu haben, begannen sie nichts mehr zu fürchten, als für impotent gehalten zu werden. Mr. Kinsey ist der Prototyp eines Moralpredigers in reverso.> In diesem Ausspruch wird ein tiefgründiger Mechanismus deutlich, auf den auch Kardiner (60 b, S. 60) hinweist: Indem sexuelle Potenz und Orgasmus zum konventionellen Normalanspruch werden, schafft dieser zur gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit erhobene Standard natürlich die Furcht und Angst, ihm nicht zu genügen. Potenzfurcht und Ängstlichkeit wird zur modernen Sozialfurcht. Der <befreiende> Abbau der Schamkonventionen durch sexuelle Offenheit schafft nur die umgekehrte soziale Konvention des Orgasmus-Zwanges. (Fs)

112a Am deutlichsten ist diese Veränderung wohl in dem von der Gesellschaft heute als normal bewerteten sexuellen Verhalten der Frau zu bemerken: Daß auch für sie die Sexualität primär der eigenen Lustsuche zu dienen hat und auch ihre Veranlagung nur als <normal> anzusehen ist, wenn sie die Fähigkeit besitzt, eine Klimax im Geschlechtsverkehr zu erreichen, ist eine Normvorstellung durchaus neueren Datums. Sie ist zwar keineswegs allein durch die lustbetonende psychologische Deutung der Sexualität geschaffen worden, sondern hat z. B. in der universellen Ausbreitung der empfängnisverhütenden Mittel (wir kommen später darauf zurück), in der Gleichberechtigungsforderung der Frauenemanzipation usw. ihre Voraussetzungen, aber die psychologische Lustbetonung der Sexualität ist ja weitgehend nur eine geistige Verarbeitung der Verbreitung der Kontrazeption, die Gleichberechtigung der Frau auf diesem Gebiete interpretiert sich psychologisch usw. Diese neue Konvention geht ungeprüft dann bereits als Grundlage in die wissenschaftliche Forschung über das geschlechtliche Verhalten der Frau ein, wofür vielleicht der Kinsey-Report über das sexuelle Verhalten der Frau das beste Beispiel ist. (Fs)

So wirft Kardiner Kinseys zweitem Bericht vor allem eine völlig unkritische Verwendung des Orgasmus-Begriffes bei der Frau vor und deckt daran eben jene pseudo-wissenschaftliche Verführung der weiblichen Selbstdeutung als soziale Breitenwirkung des Reports auf, die wir schon S. 57 erwähnten. <Eine Frau, die beim Koitus keinen Orgasmus hat und Kinsey-Buch unkritisch liest, wird entdecken, daß sie weit unter der Norm liegt, die er aufstellt. Wenn sie liest, daß 90% aller Frauen potent sind, wird sie sich selbst als frigide betrachten und zu der kleinen Minorität der Abnormen zählen. Sie weiß nicht, daß Kinseys Standard irrig ist und darauf berechnet, die Ausdehnung der weiblichen Frigidität zu verkleinern. Und wenn dann auch darin steht, daß die Masturbation ihre Fähigkeit zum Orgasmus beim Koitus verstärken wird, dann unterliegt sie einem völlig irreführenden Ratschlag. Wir können feststellen, daß Kinseys Werk über den Mann wertvoll ist, weil die Grundeinheit der Untersuchung (der Orgasmus) besser festgelegt und greifbar war. Die über die Frau ist völlig irreführend> (60 b, S. 73). (Fs)

113a Sein Urteil - das eines Psychiaters und Psychosoziologen, der glänzend mit tiefenpsychologischen Hypothesen arbeitet -, daß <das Werk sowohl Freuds wie Kinseys einen schrecklichen Einfluß (terrific impact) auf die Gesellschaft gehabt hat> (ebd. S. 80), gilt also keineswegs der wissenschaftlichen Bedeutung dieser Schriften, sondern zielt eben auf diese tiefergehende soziale Wandlung der Konventionen und Normalansprüche, auf die Begründung neuer <kommandierender Bedürfnisse> (Nietzsche), die von ihnen ausgeht und deren spezifischen Gefahren und Notständen wir - und erst recht die Psychologie - dann hilflos gegenüberstehen. (Fs)

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