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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität: geschichtlicher Charakter; Differenzierung: sozialer, individueller Aspekt; Wurzeln: Christentum; Minnegesang, Marienkult (Bertnhard von Clairvaux)); moderne Wissenschaft

Kurzinhalt: Während die anderen Welt- und Erlösungsreligionen ..., wird der Einzelne im Christentum auf seine Sexualität als eine Aufgabe seiner innersten Person zurückgeworfen

Textausschnitt: 1. Das geschichtliche Verständnis der Sexualität

102a Wir haben in unserer Darstellung immer wieder auf den geschichtlichen Charakter der Sexualität als menschlicher Verhaltensform hingewiesen: Die Erscheinungsform der Geschlechtlichkeit nimmt an den Wandlungen und Entwicklungen der Kultur teil. So unterliegt sie auch einem jeweils zeitbedingten und zeittypischen Verständnis, wobei die Verflochtenheit sexueller Antriebe und Regulierungen mit nahezu allen sozialen Gebilden und Verhaltensformen es fast selbstverständlich macht, daß eine Gesellschaft die Sexualität stets in dem Sinne begreifen muß, wie sie sich selbst als soziale Struktur versteht und interpretiert. Die Sexualtheorien einer Zeit und Gesellschaft decken sich daher mit den jeweiligen Sozialtheorien oder sind vielmehr selbst nur, offen oder verdeckt, Ausfaltungen des jeweiligen sozialen Selbstbewußtseins. Allerdings tritt in unserer Tradition erst nach einem bestimmten geschichtlichen Wendepunkt das Bedürfnis nach einer expliziten und bewußten sozialen Deutung der Sexualität auf: mit der Erschaffung der abendländischen Individualität durch die Erlösungsreligion des Christentums. Solange die sexuellen Antriebe wesentlich von den sozialen Ansprüchen der Gruppe oder Gesellschaft her reguliert und in dementsprechenden religiösen und moralischen Systemen ritualisiert geführt wurden, wird dem Individuum seine Sexualität gar nicht zum Problem; erst indem das Christentum in jedem Einzelnen die Sorge um das Heil seiner Seele erweckt, konfrontiert es ihn unausweichlich mit dem Individualwert seiner Handlungen, so vor allem mit seiner Sexualität, wofür von Paulus ab die Schriften der Kirchenväter beredtes Zeugnis ablegen. Während die anderen Welt- und Erlösungsreligionen die Sexualität im wesentlichen in der traditionellen Schicht gruppenhafter Ritualisierung belassen, wird der Einzelne im Christentum auf seine Sexualität als eine Aufgabe seiner innersten Person zurückgeworfen; erst hier wird die Sexualität individualistisch, <autistisch> und erfordert jetzt eine Deutung für das individuell=personhaft zu verantwortende Führungsschema des Lebens. In diesem Moment müssen ein sozialer und ein individueller Wertungs- und Verständnisaspekt der Sexualität auseinandertreten; beide bestimmen denn auch in ihrem Widerspiel und in ihrer Ergänzung lange Jahrhunderte hindurch die Sexualitätsproblematik des Christentums und gehen säkularisiert in das moderne sozialwissenschaftliche Verständnis der Sexualität ein. In der sozialen Wertungs- und Verständnissicht werden stets die Interessen der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Gebilde am sexuellen Verhalten des Menschen betont (Fortpflanzung, Eheführung, Gesundheit, soziales und politisches Bevölkerungspotential, sozialer Status der Familie usw.); im individuellen Aspekt bestimmen die jeweiligen Interessen der Einzelperson (Heil der Seele, Liebe, Sinnenlust, Genuß usw.) die Wertung und Deutung der Sexualität. Diese beiden Interessen» richtungen gehen in unserer geistigen Tradition dann die verschiedenartigsten Kombinationen und Synthesen ein. (Fs)

103a So finden wir in der christlich-katholischen Kirchenlehre auf der einen Seite die platonisch-manichäische Verurteilung von Sinnlichkeit und Sexualität als Erbsünde, als etwas Befleckendes, von dem sich der Christ um des Heils seiner Seele willen möglichst fernzuhalten habe; von der paulinischen Wertung der Ehe als Zugeständnis zur Verhütung der Unzucht (1. Kor., 7) über die asketische Moral eines Tertullian und Origenes bis zu den asketisch-häretischen Auffassungen der spiritualistischen Sekten, z. B. der Katharer, die Ehe und Schwangerschaft als unsühnbare Verbrechen brandmarkten. Andererseits hat gerade die Kirche mit der Heiligung der Ehe als Sakrament der sozialen Bedeutung der Sexualität in den christlichen Gesellschaften die entscheidende Grundlage gegeben und ist, worauf kürzlich F. Arnold (80) klar hingewiesen hat, der übertriebenen asketischen Sinnesfeindschaft unter Berufung auf die aristotelische Lehre, daß der Leib das Organon der Seele sei, in verschiedenen Konzilen und Synoden entgegengetreten. Bei Thomas von Aquin, ja schon bei Augustin, sehen wir beide Auffassungen vertreten. (Fs)

103b Im Protestantismus finden wir eine ähnliche Kombination der beiden Deutungsaspekte der Sexualität: Auf der einen Seite wird durch die Tendenz der <innerweltlichen Askese> auch der Laienstand in sexuellen Fragen stärker asketisiert als im Katholizismus, und es entwickelt sich eine spezifisch protestantische Prüderie, auf der anderen Seite wird gerade der materialistisch entwertete Geschlechtsakt zur sozialen Pflicht erhoben, wie es in der kalten Zweckrationalität des Ausspruches Franklins: <Never use venery except for health and offspring!), zum Ausdruck kommt. Diese zweckrationale Auffassung der Sexualität als <ehelicher Pflich> steckt auch in der Lehre Kants, wenn er die Ehe als einen Vertrag «zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften> (<Metaphysik der Sitten>) erklärt und damit die sexuellen Beziehungen genau nach dem Modell der Staatsvertragstheorien seiner Zeit versteht. (Fs)

103c Dieser die Sinnlichkeit im sozialen Funktionalismus entwertenden Auffassung gegenüber entdeckt die Romantik wieder die individuelle Autonomie der Liebeswirklichkeit in den sexuell-erotischen Beziehungen: So stellt Schleiermacher der puritanischen <Zweckzeugung> den Grundsatz <Du sollst nicht absichtlich lebendig machen (<Zehn Gebote für Eheleute> 1796) entgegen, so erfährt die Liebe in Schlegels <Lucinde>, in Stendhals <De l'amour> ihre Darstellung als rein private, allen sozialen Beschränkungen enthobene Schicksalserfüllung der Person, eine Sinndeutung der menschlichen Sexualität, die nicht zuletzt über den Roman zum allgemeinen erotischen Selbstbewußtsein unserer Zeit geworden ist. (Fs)

104a Dieses romantische Verständnis der Liebesbeziehung verweist uns auf eine zweite geschichtliche Wurzel, aus der neben der christlichen Individualisierung die Deutung der Liebe in unserer Tradition gewachsen ist: auf die Kultivierung der Liebe und die Verehrung der Frau durch die Troubadoure und Minnesänger als eine hohe kulturelle Existenzform seit dem 11. und 12. Jahrhundert. Der Kern dieser in ihren Folgen unverlierbaren historischen Wendung ist eine geistige und sittliche Hochstellung und Verehrung der Frau als eines reinen und hehren Wesens, um dessen Zuneigung und Liebe zu erringen, man die höchsten Anstrengungen und Leistungen auf sich zu nehmen hat. Waffentaten und Dichtungen werden von jetzt ab zu Ehren der so Geliebten und Verehrten vollbracht; das Verhältnis des Mannes zur Frau gewinnt dadurch die Möglichkeit einer Vergeistigung und Personsteigerung, die in anderen Kulturen, auch vorher im Christentum, nicht gegeben ist. Mit Recht sagt Russell: <Man schuf sich eine erotische Gedankenform, die fähig war, ein Übergewicht an ethischem Gehalt in sich aufzunehmen, ohne deshalb je den Zusammenhang mit der natürlichen Frauenliebe ganz aufzugeben. Denn der sinnlichen Liebe war der edle Frauendienst ohne Anspruch auf Erfüllung entsprungen. Nun wird die Liebe das Feld, auf dem man alle ästhetischen und sittlichen Vollkommenheiten erblühen ließ. Nach der Theorie der höfischen Minne wird der edle Liebhaber durch seine Liebe tugendsam und rein. Das vergeistigende Element nimmt in der Lyrik immer mehr zu. Schließlich ist die Wirkung der Liebe ein Zustand heiliger Erkenntnis und Frömmigkeit: la vita nuova> (933. (Fs)

104b Die darin liegende Entsexualisierung in der Auffassung der Frau, die an sich der christlichen Welt vorher fremd war, verschmilzt doch gerade durch ihre asketische Neigung gegenüber der geschlechtlichen Vereinigung und durch ihre sittliche Sublimation der Liebesbeziehung sehr schnell mit der christlichen Tradition, eine Synthese, die dann in der erst seit dieser Zeit auftauchenden Marienverehrung ihren höchsten Ausdruck findet; (gegenüber dem 1140 in Lyon institutionaliiierten Fest der <Unbefleckten Empfängnis Mariae> sagt noch Bernard v. Clairvaux protestierend, daß es <den Bräuchen der Kirche unbekannt, der Vernunft zuwider und ohne Sanktion durch die Tradition> sei). Der höfische Minnedienst selbst trennte in seinen Idealen die Liebe fast vollständig vom geschlechtlichen Besitz der Frau und kultivierte die Verehrung und das Sichsehnen, aber auch den autistischen Genuß der Unbefriedigtheit und des Schmerzes der Liebeswerbung als den eigentlichen Höhepunkt der Liebe; die Aussprüche der Troubadoure wie: <Ich bin kein Liebhaber, sondern ein Anbeter> oder <Der versteht nichts von der Liebe, der seine Herrin ganz zu besitzen wünscht>, zeigen diese unerhörte Befreiung der Frau davon, in der Liebesbeziehung vornehmlich als Sexualobjekt angesehen zu werden, und weisen allen zukünftigen Sublimationsaskesen der Liebe ihren neuen Weg. Die geschichtlich ungeheuer bedeutsame Wirkung dieser Haltung besteht nun aber gerade darin, daß von jetzt ab Liebe dieser Art und Sexualität im idealen Anspruch der abendländischen Person nicht mehr zu trennen sind, sondern diese neugefundene Höhenschicht der Liebesbegegnung als Anspruch der Selbststeigerung in jeder sexuellen Beziehung liegt. Tritt sie aber, was ebenfalls dem Europäer erst von hier ab als eine allgemeine Haltung möglich wird, in <höhere> und <niedere Liebe> auseinander, so erfährt die <niedere Lust> von hier aus eine Abwertung, die ihre Begründung nicht nur aus der christlichen Sinnesfeindschaft, sondern aus dem Wesen der Liebe selbst zieht. (Fs)

105a Diese Wandlung in den Beziehungen der Geschlechter ist als eine der ganz großen Kulturleistungen unserer Tradition anzusehen: <Der Begriff der Liebe, wie er heute verstanden wird, ist in Europa geschaffen worden. Er ist ein reines Kulturprodukt, so daß man von einer Geburt der Liebe wie von einer Geburt der Tragödie sprechen könnte> (E. Lucka, zit. L. L. Matthias, 88, S. 227). <Die Frau wurde im gleichen Sinne entdeckt wie der Fluß oder der Berg. Man fing an, sie zu besingen oder zu malen. Man schrieb ihr Briefe und dachte an sie mit Freude und Schmerz> (ebd. S. 229). Die schönsten Darstellungen dieser sozial- und sexualgeschichtlich folgenreichsten Leistung des Mittelalters verdanken wir Emil Lucka (86) und J. Huizinga (84); (vgl. a. Denis de Rougemont (92), L. L. Matthias (88), G. R. Taylor (94) u. a.). (Fs)

105b Schließlich ist als dritte Wurzel sowohl der geschichtlichen Gestalt wie des zeitbedingten Verständnisses der Sexualität und Liebe in unserer Gesellschaft noch die moderne Wissenschaft zu erwähnen, und zwar in ihren beiden Formen als Geistes- und als Naturwissenschaft. Ihrem Wesen nach hat die Geisteswissenschaft eher zur Wandlung des Verständnisses der Sexualität als zu deren Verhaltensveränderung beigetragen, (in bezug auf die Formierung des faktischen Verhaltens ist der Einfluß der <schönen Literatur> viel höher einzuschätzen). Man kann sagen, daß zu jeder der großen geistigen Bewegungen der Neuzeit eine ihr eigentümliche Sexualtheorie gehört; so wie dem Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus usw. jeweils eine bestimmte Staats- oder Wirtschaftstheorie eigen ist, müßte man auch bestimmte Auffassungen der sexuellen Beziehungen den jeweiligen Geistesrichtungen zuordnen. Leider hat die übliche Ideengeschichte von dieser Seite menschlicher und sozialer Selbstdeutung erstaunlich wenig Kenntnis genommen; dabei ist z. B. die These von einer entwicklungsgeschichtlich ursprünglich universalen und bedingungslosen geschichtlichen Promiskuität der Menschen eine so typisch liberale Konstruktion oder die Auffassung der geschlechtlichen Ausbeutung der Frau durch den Mann ohne die sozialistische Klassentheorie so wenig zu denken, daß in der analytischen Durchleuchtung dieser geistesgeschichtlichen Abhängigkeiten möglicherweise das Verständnis der einzelnen Geistesbewegungen erst noch ihr anthropologisches Fundament zu gewinnen hat. (Fs)

106a Stärkeren Einfluß auf die sexuellen Verhaltensänderungen hat die moderne Naturwissenschaft ausgeübt: Nach Jahrhunderten wesentlich religiös, moralisch oder sozial normativen Verständnisses der Sexualität schuf sie einen neuen <sachlichen> Zugang zu ihr und eröffnete so ganz veränderte Motivschichten des sexuellen Verhaltens. Schon der Begriff <Sexualität> kennzeichnet den naturwissenschaftlich entnormisierenden und entmoralisierenden Zugang zum Verständnis des Geschlechts und der Liebe. Diese sachliche, nämlich biologisch-medizinische Autonomisierung und Isolierung der Geschlechtlichkeit als eines eigenständigen, vorwiegend somatischen Geschehensbereichs hat nichtsdestoweniger zunächst gerade den sozialen Anliegen an die Sexualität neue Handlungs- und Behandlungsmöglichkeiten erschlossen: Kontrolle der Geschlechtskrankheiten, Behandlung pathologischen Sexualverhaltens als Krankheitserscheinung, Bevölkerungspolitik usw. Den größeren Einfluß gewinnt die wissenschaftliche Biologie aber dann in ihrer Verbindung mit den Einsichten eines Nietzsche, Freud usw. über die Abhängigkeit geistiger und seelischer Befindlichkeiten von der biologisch begriffenen Triebstruktur des Menschen: In den Auswirkungen einer popularisierten Psychoanalyse in Verbindung mit einer allgemeinen Psychologisierung der Verhaltensmotivation und -steuerung gewinnt die Sexualität heute vielleicht ihren bezeichnendsten Zeitcharakter, dem wir in einem eigenen Kapitel nun nachgehen wollen. In dieser Richtung wirkt das naturwissenschaftliche Verständnis der Sexualität als Betonung und Steigerung der individualistischen, lustsuchenden Interessen an ihr und kann, wie wir gezeigt zu haben glauben, dabei seinerseits in eine biologistische Normativierung mit sozialem und moralischem Verbindlichkeitsanspruch umschlagen. Es wird durch unsere Ausführungen bis hierher hoffentlich deutlich geworden sein, daß wir die Aufgabe eines echten sozialwissenschaftlichen Verständnisses der Sexualität dagegen darin sehen, die im Dualismus sozialer und individueller Interessen gegenüber der Geschlechtlichkeit liegende soziale und persönliche Formierungs- und Gestaltungsaufgabe der bloßen <Natur> der Sexualität wieder entgegenzustellen und freizulegen. (Fs)

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