Datenbank/Lektüre


Autor: Voegelin, Eric

Buch: Evangelium und Kultur

Titel: Evangelium und Kultur

Stichwort: Leben, Existenz, Faktum; Sartre; Descartes

Kurzinhalt: Das Leben ist kein Faktum mit der Eigenschaft "Sinn"; cogito, ergo sum; sum, ergo cogito

Textausschnitt: 10 Da die Frage das Wesen des Menschen betrifft, ist sie heute die gleiche, die sie auch in der Vergangenheit immer schon war. Aber heute ist sie durch den Dekulturationsprozeß im Westen so sehr entstellt, daß sie zuerst einmal aus dem intellektuell liederlichen Sprachgebrauch herausgelöst werden muß, in dem wir unterschiedslos vom Sinn des Lebens sprechen oder vom Sinn der Existenz, oder vom Faktum der Existenz, das keinen Sinn hat, oder von dem Sinn, den man dem Faktum der Existenz erst geben muß, und so weiter, so als ob Leben eine gegebene Tatsache wäre und Sinn eine Eigenschaft, die das Leben hat oder nicht hat. (18; Fs) (notabene)

11 Nun ist aber Existenz kein Faktum. Wenn überhaupt, dann ist Existenz das Nicht-Faktum einer beunruhigenden Bewegung im metaxy1 von Nichtwissen und Wissen, von Zeit und Zeitlosigkeit, von Unvollkommenheit und Vollkommenheit, von Hoffnung und Erfüllung und schließlich von Leben und Tod. Aus der Erfahrung dieser Bewegung, aus der Angst, in diesem 'Zwischen' von Dunkel und Licht die Orientierung zu verlieren, entsteht die Frage nach dem Sinn des Lebens. Sie entsteht aber nur, weil Leben erfahren wird als das Partizipieren des Menschen an einer Bewegung, deren Richtung man treffen oder verfehlen kann. Wäre menschliche Existenz nicht eine Bewegung, sondern ein Faktum, dann hätte sie nicht nur keinen Sinn, sondern die Frage nach dem Sinn könnte nicht einmal entstehen. (18f; Fs) (notabene)

12 Die Verknüpfung zwischen Bewegung und Suche kann man am besten am Beispiel ihrer Deformation bei gewissen existentialistischen Denkern erkennen. Ein Intellektueller wie Sartre z.B. sieht sich in einen ausweglosen Konflikt verstrickt zwischen seiner Annahme einer sinnlosen Faktizität der Existenz und seinem verzweifelten Verlangen, sie aus den Quellen seines Moi mit Sinn auszustatten. Durch die Annahme, Existenz sei ein Faktum, kann er sich von der Suche des Philosophen völlig abschneiden, aber er kann seiner existentiellen Unruhe nicht entrinnen. Wird die Suche daran gehindert, sich im metaxy zu bewegen, und kann sie sich deshalb nicht auf den göttlichen Grund des Seins richten, dann muß sie sich auf einen Sinn richten, welcher der Imagination von Sartre entspringt. So verlangt die Suche zwingend ihre Form, auch wenn ihr wesentlicher Inhalt verloren gegangen ist. Das imaginierte Faktum der Existenz kann nicht so sinnlos bleiben, wie es ist, sondern wird notwendigerweise zum Sprungbrett für das Ego des Intellektuellen. (19; Fs)

13 Diese imaginative Zerstörung der Vernunft und der Realität ist nicht etwa Sartres Idiosynkrasie; sie ist vielmehr geschichtlich repräsentativ, da sie erkennbar eine Phase in der Entwicklung eines Denkens ist, dessen Modus von Descartes bestimmt worden ist. Die Meditationes gehören zwar noch zur geistigen Kultur der Suche, aber Descartes hat die Bewegung deformiert, indem er ihre Partner zu Objekten für einen archimedischen Beobachter außerhalb der Suche verdinglichte. In der Konzeption der neuen, dogmatischen Metaphysik ist der Mensch, der sich selbst als Fragender erfährt, in ein res cogitans verwandelt worden, deren esse erst aus ihrem cogitare abgeleitet werden muß. Und der Gott, auf dessen Antwort wir hoffen und warten, ist zum Gegenstand eines ontologischen Beweises seiner Existenz verwandelt worden. (19f; Fs)

Kommentar (vom 10/03/06): An diese Art von Metaphysik wird der Einfluss der Naturwissenschaftlichen Methode deutlich.

20 Ferner ist die Bewegung der Suche, die erotische Existenz im metaxy von Göttlichem und Menschlichem zu einem cogitare geworden, das seine Objekte beweist. Die innere Helligkeit des Lebens der Vernunft hat sich in die Klarheit des raisonnements verwandelt. Indem also in den Meditationes die Realität der Suche zerfällt, werden aus diesem Auflösungsprozeß drei Gespenster freigesetzt, die bis zum heutigen Tag auf der Szene der westlichen Kultur herumspuken. Da ist an erster Stelle der Gott, der aus der Suche hinausgeworfen ist, und dem es nicht mehr erlaubt ist, Fragen zu beantworten: Seit er sich vom Leben der Vernunft in den Ruhestand zurückgezogen hat, ist er zu einem Gegenstand des Glaubens ohne Vernunft eingeschrumpft; und in angemessenen Abständen wird er für tot erklärt. (20; Fs)

21 Da ist dann an zweiter Stelle das cogitare des archimedischen Beobachters außerhalb der Bewegung. Es ist zum Monstrum des Hegelschen BEWUSSTSEINS angeschwollen, das seinen eigenen Gott, seinen eigenen Menschen und seine eigene Geschichte hervorgebracht hat. Und dieses Monstrum kämpft noch immer verzweifelt darum, daß seine dialektische Bewegung als real akzeptiert wird an Stelle der realen Bewegung der Suche im metaxy. Und schließlich ist da der Mensch des cartesischen cogito, ergo sum, Er ist ziemlich heruntergekommen, reduziert auf das Faktum und die Figur des Sartreschen sum, ergo cogito. Der Mensch, der einst nicht nur sich selbst, sondern sogar die Existenz Gottes beweisen konnte, ist zu dem Menschen geworden, der dazu verurteilt ist, frei zu sein, und keinen dringenderen Wunsch hat, als wegen der Veröffentlichung eines maoistischen Journals verhaftet zu werden. (20f; Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt