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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Aristoteliker, Aristoteles - Christentum; Grenzen der Vernunft; Bonaventura - Thomas; De unitate intellectus; Lehrverurteilung (Tempier, 1277)

Kurzinhalt: So kam es bald zu einer doppelten Form von Kritik an den konsequenten Aristotelikern: Während der Franziskaner Bonaventura ... Thomas

Textausschnitt: 28a Bei der Entfaltung solcher Thesen agierten die konsequenten Aristoteliker freilich äußerst zurückhaltend. Gerade die brisantesten Thesen stellten sie nur als Auslegung des Aristoteles vor, nicht aber als ihre eigene Lehre, so dass sie sich jederzeit darauf zurückziehen konnten, lediglich fremde Auffassungen referiert zu haben. Gelegentlich gingen sie sogar so weit, die aristotelische These und die christliche Gegenthese schroff nebeneinander zu stellen - bei oberflächlicher Lektüre konnte man so tatsächlich zu der Vermutung kommen, hier werde ein doppeltes Spiel mit der Wahrheit getrieben, werde die Entscheidung für die christliche Wahrheit bewusst vermieden. (Fs)

28b Dass dies nicht die Intention der konsequenten Aristoteliker war, hat die moderne Forschung zur Genüge herausgearbeitet - doch für ihre geistesgeschichtliche Stellung war gerade entscheidend, dass sie durch ihre Lehren, seien sie auch noch so zurückhaltend formuliert, die Konsequenzen des Aristoteles derart deutlich vor Augen gestellt haben, dass noch einmal die Frage nach der Legitimität der Philosophie ganz neu zu stellen war. Aristoteles war für das mittelalterliche Denken nicht ein Philosoph neben vielen, sondern der Philosoph schlechthin, und wenn eine konsequente Aristoteleslektüre zu Ergebnissen kam, die dem Christentum widersprachen, stellte dies ganz generell die Leistungen der menschlichen Vernunft im Angesicht der göttlichen Offenbarung in Frage. (Fs)

28c So kam es bald zu einer doppelten Form von Kritik an den konsequenten Aristotelikern: Während der Franziskaner Bonaventura, der in seiner auch mystisch geprägten Geistigkeit ohnehin nicht zu den Freunden des Aristoteles gehörte, das Auftreten der radikalen Aristoteliker nutzte, um in mehreren Predigten 1266/7 allgemein die Grenzen der Vernunft aufzuzeigen, sah Thomas in den harten Konfrontationen zwischen Aristoteles und christlicher Überzeugung, die die konsequenten Aristoteliker aufwiesen, auch sein eigenes Projekt der Harmonisierung von Aristoteles und Christentum gefährdet. Er versuchte, ganz im Gegensatz zu Bonaventura, aufzuzeigen, dass die konsequenten Aristoteliker gerade nicht repräsentativ für die Vernunft insgesamt waren, sondern eine individuelle und falsche Form der Aristoteleslektüre vortrugen. So ging er gleichermaßen philologisch und philosophisch gegen sie vor: Es war Thomas, der Wilhelm von Moerbeke (ca. 1215-ca. 1286) zu einer neuen Aristoteles-Übersetzung veranlasste, weil er es für nötig erachtete, Aristoteles möglichst präzise in lateinischer Sprache zugänglich zu machen. Aber er nahm eben auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit Siger und seinen Gefährten auf. 1270 verfasste er eine eigene Schrift, "De unitate intellectus", die der Auseinandersetzung mit der aristotelischen Erkenntnis- und Seelenlehre gewidmet war. Eben darin findet sich auch die infame Einordnung der Pariser Aristoteliker als "Averroistae". Sie sollten mit dem islamischen Gelehrten auf eine Stufe gestellt werden - deutlicher konnte Thomas nicht machen, dass er in ihnen nicht "die" Philosophie, sondern nur eine philosophische Richtung repräsentiert sah, gegen die aus der Warte der christlichen Philosophie zu kämpfen war. Übrigens hat Siger diesen Kampf durchaus aufgenommen: Im Zuge seiner Schriften zeigt sich, wie flexibel er auf die Kritik des Thomas reagierte und seine Seelenlehre immer stärker in christlichem Sinne überarbeitete. (Fs)

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