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Autor: Rahner, Karl

Buch: Geist in Welt

Titel: Geist in Welt

Stichwort: § 3. Reditio subjecti in se ipsum und intellectus agens; intellectus possibilis (Sinnlichkeit); "bei sich gegen anderes"

Kurzinhalt: Das Beisichsein als Beisichselbersein und das Beisichselbersein als Gegen-anderes-gestellt-Sein machen die eine Grundverfassung des menschlichen Intellekts in dieser Doppeltheit aus, ...

Textausschnitt: § 3. Reditio subjecti in se ipsum und intellectus agens

91a Vergewissern wir uns noch einmal über den Punkt, an dem unsere Überlegungen jetzt stehen. Die eine menschliche Erkenntnis ist gegenständliche Hinnahme des anderen, der Welt. Um auf Grund der Voraussetzung der Identität von Erkennen und Sein eine anschauende Hinnahme des anderen als solchen in ihrer Möglichkeit zu begreifen, wurde die Sinnlichkeit als actus materiae eingeführt. Als solche gibt sie zwar das andere, aber nicht als Gegenständliches, über das etwas urteilend wahr ausgesagt werden kann. Die Fähigkeit dieser Vergegenständlichung in Gegensetzung von Erkennen und Erkanntem nannten wir Denken, in dessen Merkmalen als einer allgemeinen, urteilenden, wahren Erkenntnis wir die Anzeige für diese Entgegensetzung und Objektivierung des Erkannten und für die Rückkunft des Erkennenden auf sich selbst erfaßten. (Fs)

91b Wie ist diese abstrahierende Rückkunft in ihrer Möglichkeit zu begreifen? Aus dem über die Sinnlichkeit Gesagten ergibt sich zunächst als erste selbstverständliche Aussage negativ, daß die Sinnlichkeit als solche diese Rückkunft, das Beisichsein gegen ein anderes nicht zu vollziehen vermag. (Fs)

91c Der Intellekt ist denkend bei sich gegen ein anderes, und als solcher kann er ein Allgemeines auf ein Suppositum beziehen, urteilen und die Wahrheit eines Urteiles erfassen. Er ist bei sich als gegen anderes gestellter. Beides in einer Einheit beschreibt das Wesen der menschlichen Erkenntnis: er ist bei sich selbst als er selber, weil er sich im Beziehen des allgemeinen Gewußten auf etwas und im Urteilen über etwas von diesem Etwas abhebt. Er ist aber nur in dieser Abhebung gegen ein anderes bei sich selbst, wissend in sich selbst ständig. Daß er nur so bei sich selbst ist, bestreiten wollen, hieße den Boden verlassen, auf dem sich unser Fragen ständig zu halten hat, auf der Vorentscheidung dazu, daß der Mensch sich immer vorfindet als schon bei der Welt seienden. Sein Beisichselbersein ist also in einem Gegenstehen zu Welt gegründet, wenn es auch nicht nur das Beisichsein als Beim-andern-Sein, d. h. Sinnlichkeit, ist. (Fs)

91d In der Formulierung: "bei sich gegen anderes" ist schon ein Hinweis auf die genauere Erfassung dessen enthalten, was menschliches Denken ist. Das Beisichsein als Beisichselbersein und das Beisichselbersein als Gegen-anderes-gestellt-Sein machen die eine Grundverfassung des menschlichen Intellekts in dieser Doppeltheit aus, die in den thomistischen Begriffen von intellectus agens und intellectus possibilis zur Geltung kommt, wenn auch jeder dieser {92} beiden Titel die ganze Grundverfassung unter verschiedener Rücksicht ausdrückt. (Fs) (notabene)

92a Wäre nämlich dem menschlichen Denken ein Beisichselbersein ohne eine Gegenstellung gegen anderes möglich, so wäre das Erstgewußte (objectum proprium) das Sein des Erkennenden selber1. Es wäre dann für einen intellectus agens keine Möglichkeit, insofern dieser gerade die Fähigkeit besagt, ein allgemeines Gewußtes von einem anderen Seienden zur Abhebung zu bringen und dadurch erstmalig eine gegenstellende Hinbeziehung des Wissens vom Wissenden auf das Gemeinte zu ermöglichen. Es wäre aber auch nicht eigentlich Raum für einen intellectus possibilis, d. h. für eine Fähigkeit, Wissen über ein anderes als von diesem gegebenes hinzunehmen. Denn in der gemachten Voraussetzung hätte der Intellekt die Möglichkeit des Beisichselberseins immer schon durch sich selbst allein, er wäre darum schon im voraus bei sich und hätte sich schon immer erkannt, ohne davon abhängig zu sein, daß ein anderes sich ihm zeigt und ihm so die Möglichkeit gibt, in der Gegensetzung zu diesem bei sich selbst zu sein. Wäre umgekehrt die Erkenntnis Beisichsein, nicht als gegen anderes gestellte, sondern als nur beim anderen seiende, so wäre solche Erkenntnis bloße Sinnlichkeit, die ein Beisichselbersein wesensmäßig ausschließt; eine Ablösung des Seins (Wissens) von dem, worüber etwas gewußt wird, wäre unmöglich. Es bliebe nur noch die Fähigkeit einer passiven Hinnahme eines anderen in seinshafter Hingegebenheit an das andere. (Fs)

92b Aus diesen vorläufigen Formulierungen dessen, was thomistisch intellectus agens und intellectus possibilis bedeuten, zeigt sich schon, daß der intellectus agens das den Intellekt vorzüglich charakterisierende Moment ist. Denn der intellectus possibilis läßt sich nur als hinnehmendes Vermögen des anderen bestimmen, und wegen dieses Wartenmüssens auf das Begegnen des anderen ist er an sich leer (possibilis). Das aber ist eine Bestimmung, die formal auch auf die Sinnlichkeit zutrifft. Wird sie aber vom intellectus possibilis derart verstanden, daß die Hinnahme des Seins des Gewußten so geschieht, daß es von diesem abgehoben auf das Gewußte als ein anderes hinbezogen wird, dann wird die Intellektualität des hinnehmenden Vermögens gerade durch das bestimmt, was Funktion des intellectus agens ist. (Fs)

92c Was so kurz angedeutet wurde, soll lediglich eine Überlegung darüber sein, unter welchem thomistischen Titel wir das zu suchen haben, worum es in diesem Stadium der Arbeit geht: um die Möglichkeit der reditio completa. Was Thomas über den intellectus agens sagt, ist der Sache nach seine Antwort auf diese Frage. Der {93} intellectus agens setzt im Vollzug seiner Funktion durch die Abstraktion des Seins vom Seienden den Erkennenden gegen das Ansichseiende ab. (Fs)

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