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Autor: Hazard, Paul

Buch: Die Krise des europäischen Geistes

Titel: Die Krise des europäischen Geistes

Stichwort: Leibniz, Bossuet; Versuch einer Versöhnung (Protestanten - Katholiken)

Kurzinhalt: Es ist diese: man kann sich in Glaubenssachen irren, ohne ein Ketzer oder Schismatiker zu sein, sofern man nur nicht verstockt ist.

Textausschnitt: 265c Wenn man eine erste Phase, die nichts war als ein rasch aufeinanderfolgender Austausch von Briefen und Höflichkeiten, nicht mitrechnet, so begann die Debatte um 1691 in ihrem vollen Umfang. Von Frankreich aus blickte eine kleine Gruppe religiöser Gemüter hoffnungsvoll nach Hannover: Pelisson, der ehemalige Freund Fouquets, gehörte dazu. Er war ursprünglich Hugenotte. Nachdem er in die Bastille gesperrt, wieder befreit und zum Katholizismus übergetreten war, war er Direktor der Konversionskasse geworden. Jetzt suchte er mit glühender Seele die Kirche, die er verlassen hatte, mit der römischen Kirche zu vereinigen. Ferner gehörte dazu Louise Hollandine (die Schwester der Herzogin von Hannover), die den Protestantismus abgeschworen und sich in die Abtei von Maubuisson bei Pontoise zurückgezogen hatte,- und Madame de Brinon, ihre voll Eifer zum Ruhme Gottes tätige Sekretärin. Wer weiß? Vielleicht würde die Herzogin von Hannover sich auch bekehren? Vielleicht würde ihr Gemahl ihrem Beispiel folgen? Und vielleicht würde dies hannoversche Land, wo die gute Saat aufzugehen schien, eine herrliche Ernte geben? Signale werden ausgetauscht: Leibniz und Pellisson korrespondieren, argumentieren, lernen sich über die Entfernung hinweg schätzen und lieben. Bossuet wird aufmerksam und »billigt den Plan«. (Fs)

266a Schon sind sie im Nahkampf. Leibniz sucht den geeigneten Punkt für eine Verständigung, die am schlechtesten bewachte oder am schwächsten verteidigte Stelle, durch die man in die Festung eindringen kann. Es ist diese: man kann sich in Glaubenssachen irren, ohne ein Ketzer oder Schismatiker zu sein, sofern man nur nicht verstockt ist. Wenn die Protestanten zugeben, daß jedes ökumenische Konzil über alles, was das Seelenheil betrifft, die Wahrheit verkündet, oder wenn sie sich irren, indem sie annehmen, das Konzil von Trident, das die endgültige Trennung sanktioniert hat, habe keinen ökumenischen Charakter gehabt, so irren sie sich doch ohne böse Absicht. Sie sind weder ketzerisch noch schismatisch und verbleiben durch ihre Bereitwilligkeit, sich den Entscheidungen eines zukünftigen ökumenischen Konzils zu unterwerfen, im Geiste in der Gemeinschaft der Kirche ... Welch große Hoffnung! Und welch einen Schritt dem Frieden der Seele entgegen täte man, wenn Bossuet ihm günstig gesinnt wäre! (Fs)

266b Daß man die von einem Konzil aufgestellten Grundsätze so herumdreht, bis man sie im Endergebnis als null und nichtig ansieht, das wird der Bischof von Meaux so leicht nicht zulassen. »Um sich bei diesen Einigungsprojekten nicht zu täuschen, muß man sich ganz klar darüber sein, daß die römische Kirche sich zwar je nach Zeit und Gelegenheit in unwichtigen Punkten und in solchen der Kirchenzucht nachgiebig erweisen wird, aber niemals in irgendeinem Punkt der festgelegten Doktrin, insbesondere nicht derjenigen, die vom Konzil von Trident festgelegt worden ist...« Den Lutheranern gewisse Genugtuungen, wie zum Beispiel das Abendmahl in beiderlei Gestalt, gewähren, das geht an, aber in bezug auf das Autoritätsprinzip, diesen Eckstein der Kirche, kapitulieren, bestimmt niemals. So geht Bossuet denn in seiner kraftvollen, für diplomatische Verhandlungen wenig geeigneten Art zur Offensive über: wenn Herr Leibniz an die Katholizität glaubt, wenn er erklärt, er erkenne die Glaubenssätze an, die das \Vesen der Katholizität ausmachen, liegt die Sache ja ganz einfach: er mag sich zum Katholizismus bekehren! (Fs)

267a Bossuet täuscht sich; er kennt seinen Gegner nicht richtig. Diesen unbestimmten Zwischenraum, diese kaum sichtbare Linie, die ihn von der römischen Kirche trennt, wird Leibniz nicht überschreiten. Er wird sie niemals überschreiten, weil das eine Angelegenheit des persönlichen Gewissens ist, auf die keinerlei äußerer Druck zu wirken vermag: und vor allem, weil das gar nicht der Punkt ist, um den es geht. Es handelt sich für die Protestanten nicht darum, abzudanken, sondern sich zu einigen; und er selbst ist ein Unterhändler, kein Überläufer. Bossuet mag sich darüber klarwerden, er mag seine allzu kurz angebundenen Befehlsmanieren aufgeben: »Man hat sehr große Schritte getan, um dem gerecht zu werden, was man der Nächsten- und Friedensliebe zu schulden glaubte. Man hat sich den Ufern des Flusses Bidassoa genähert, um einen Tag auf der Insel der Konferenz1 zu verbringen. Man hat absichtlich alle Manieren, die nach Streit schmecken, beiseite gelassen und all jenes Gebaren, das eine Überlegenheit andeutet, die jeder gewöhnlich seiner eigenen Partei zuerkennt ... jenen verletzenden Stolz, jenen Ausdruck der Sicherheit, in der beide Teile sich in der Tat befinden, mit der aber vor denen zu paradieren überflüssig und unangebracht ist, die ihrerseits nicht weniger davon ihr eigen nennen ...« Nochmals: die Frage, die man von Bossuet beantwortet haben möchte, ist die, ob, wenn man ohne böse Absicht der Ansicht ist, daß das Konzil von Trident kein ökumenisches war, seine Entscheidungen aufgehoben werden können. Die Antwort des Herrn Prälaten erfolgte übereilt, er möge die Voraussetzungen der Frage nachprüfen, man wird warten. (Fs)

268a Und Bossuet macht sich an die Arbeit: trotz seiner bereits erdrückenden Arbeitslasten studiert er im einzelnen die bis dahin redigierten Texte, die für die Einigung festgelegten Formulierungen. »Die erste Mußestunde, die ich finden werde, wird darauf verwandt werden, Ihnen meine Meinung in voller Offenheit zu sagen ...« - »Möge dies Jahr für Sie und alle die, welche ernsthaft die Einigung der Christen erstreben, ein glückliches sein1.« Er macht sich an die Arbeit. »Ich billige den Plan, und wenngleich ich mich nicht auf alle Mittel einlassen kann, so sehe ich doch, daß, wollte man dem Herrn Abbé Molanus und den anderen, gleich ihm Ehrenwerten, glauben, die Mehrzahl der Schwierigkeiten beseitigt wäre. Sie werden binnen kurzem meine Meinung erfahren ... « (Fs)

268b Leibniz wartet nicht tatenlos. Er sucht Argumente, die seine Sache unterstützen. Er hatte schon darauf hingewiesen, daß Frankreich selbst das Konzil von Trident nicht für ökumenisch gehalten habe: jetzt entdeckt er zu seiner großen Freude einen Tatsachenbeweis, einen Präzedenzfall, der ihm nicht bestreitbar scheint. Einmal zum mindesten - in Wahrheit auch in mehreren anderen Fällen, aber einmal zum mindesten und das in einem typischen Fall - hat die römische Kirche den Beschluß eines Konzils aufgehoben. Da die böhmischen Calixtiner die Autorität des Konzils von Konstanz, was das Abendmahl in beiderlei Gestalt anbetraf, nicht anerkannt hatten, gingen Papst Eugen und das Konzil von Basel über diesen Punkt hinweg und verlangten nicht von ihnen, sich zu unterwerfen, sondern verwiesen die Sache an eine neue Entscheidung der Kirche. Was hält Bossuet von der Beweiskraft eines solchen Präzedenzfalls? Ist es nicht in teiminis der gleiche Fall wie der, um den es sich heute handelt? »Entscheiden Sie, Monsieur, ob der größte Teil dessen, was Deutsch spricht, nicht zum mindesten ebensoviel Entgegenkommen verdient, wie man den Böhmen gezeigt hat ...« (Fs)

268c Endlich kam sie, die langerwartete Antwort; sie kam in Form einer Abhandlung, die Punkt für Punkt, den Pensées particulières sur le moyen de réunir l'Église protestante avec l'Église catholique romaine von Molanus folgte und ihre eigenen Schlüsse zog. Bossuet sagte, die vorgeschlagene Methode sei unangenehm, die Methode des Hinausschiebens nämlich, welche die Befriedung anerkannt sehen wolle, ehe noch die Prinzipien erörtert seien; allein angängig sei die Methode der Feststellung, welche die Prinzipien festlege, ehe man zu den Tatsachen überginge. Mit einer Versöhnung in der Praxis beginnen, dann eine Versammlung einberufen, die sich gütlich über die Doktrin einigt, und endlich mit einem Konzil schließen, das über die Punkte entscheidet, über die man sich nicht hat einigen können, welcher Irrweg! Als erstes ist ein Konzil erforderlich, das die Erklärung der Sinnesänderung der Protestanten entgegennimmt. Hierauf wird man sich zu verständigen suchen. Auf dem anderen Weg gibt man von vornherein im entscheidenden Punkt nach die Protestanten wollen in die Gemeinschaft der römischen Kirche zurückkehren, ehe sie sich unterworfen haben, weil sie ihren Irrtum nicht zugeben und sich weigern, die Autorität der Kirche anzuerkennen; darin liegt alles beschlossen. (Fs)

269a Die Methode bezieht tatsächlich schon die Ideen mit ein, um welche die Diskussion wesentlich geht. Die Kirche ist unfehlbar; die Entscheidungen des Konzils von Trident gelten auf ewig. Behaupten, Frankreich habe seinen ökumenischen Charakter nicht anerkannt, heißt sich selbst täuschen; denn die Weigerung Frankreichs betrifft nur den Vorrang, die Prärogativen, Freiheiten und Gebräuche des Königreichs und berührt in keiner Weise die Glaubensfragen. Das Beispiel der böhmischen Calixtiner heranziehen heißt gleichfalls sich täuschen: die Nachprüfung in Basel, die man zusagte, erfolgte nicht, um die Entscheidung von Konstanz erneut in Frage zu stellen, sondern um sie dadurch, daß man sie erläuterte, zu bestätigen. Und da Leibniz ausdrücklich fragt, ob Leute, die bereit sind, sich der Entscheidung der Kirche zu unterwerfen, die aber Gründe haben, ein bestimmtes Konzil für nicht ökumenisch zu halten, als Ketzer zu betrachten sind - so antwortet ihm Bossuet ausdrücklich: »Ja, diese Leute sind Ketzer; ja, diese Leute sind verstockt.« Danach kann Leibniz sich noch so viel verteidigen und antworten, es sei ein recht seltsamer Grundsatz zu sagen: »Gestein hat man solches geglaubt, daher muß man heute dasselbe glauben«; er wird keinen Schritt mehr vorankommen. Bossuet hat vor ihm eine Mauer errichtet, die er für lückenlos hält; und so könnte die Diskussion geschlossen werden. (Fs)

270a Trotzdem wurde sie wieder aufgenommen. Die Autoren zweiten Ranges verschwanden, vom Tode dahingerafft; aber Leibniz und Bossuet überdauerten, und solange sie lebten, gab es noch eine Hoffnung. Am 27. August 1698 verfaßte Leibniz im Kloster von Lockum ein neues Projet pour faciliter la réunion des protestants avec les catholiques romains, an dessen Schluß er ein erschütterndes Gebet zu Gott setzte, und nahm seine Korrespondenz mit Bossuet wieder auf. Aber die Argumente waren dieselben, bis auf eines. In seinem hartnäckigen Bestreben, zu zeigen, daß es nicht wahr sei, daß der Standpunkt der Kirche sich nie geändert habe, greift er die Frage der Echtheit der Heiligen Bücher auf. Die Kirche hält heute Schriften für authentisch, welche die alte Kirche für apokryph hielt; die Überlieferung hat sich also gewandelt ... Die Kontroverse geht, schwerfällig und ins einzelne gehend, weiter bis zu dem Augenblick, da Bossuet seinem Ende nahe ist. Die gewechselten Briefe werden zu langen Abhandlungen, von denen eine bis zu hundertundzweiund-zwanzig Artikeln umfaßt; aber man braucht wohl nicht zu sagen, daß Leibniz, als er die Echtheit der Heiligen Bücher in Frage zog, den Weg der Versöhnung verließ. (Fs)

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