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Autor: Hazard, Paul

Buch: Die Krise des europäischen Geistes

Titel: Die Krise des europäischen Geistes

Stichwort: Leibniz; Biographisches; Suche nach Harmonie; Infinitesimalrechnung, Kontinuität

Kurzinhalt: Die Zurückführung auf die Einheit, das ist in der Tat die zweite große Leidenschaft von Leibniz. Er empfindet die Gegensätze weniger stark als die Übereinstimmungen und richtet sein Augenmerk darauf, die Reihe der winzigen Abstufungen zu erkennen ...

Textausschnitt: 255a »Er war schmal und blaß. Seine mit unzähligen Runzeln bedeckten Hände liefen in dünne Finger aus. Da seine Augen von Anbeginn wenig scharf waren, fehlten ihm beherrschende visuelle Bilder. Er trug den Kopf geneigt und haßte alle brüsken Bewegungen. Er liebte Wohlgerüche und schöpfte daraus wahre Erholung. Er zog die Meditation und die einsame Lektüre dem Gespräch vor; aber wenn ein Gespräch sich entspann, so setzte er es gern fort. Er liebte die Nachtarbeit. Er machte sich nichts aus vergangenem Geschehen; der geringste gegenwärtige Gedanke fesselte ihn mehr als die größten weit zurückliegenden Dinge. So schrieb er denn auch unaufhörlich Neues und ließ es unvollendet; am nächsten Tag vergaß er es und gab sich keinerlei Mühe, es wieder aufzufinden ...1« (Fs)

255b So war Leibniz. Welch ein Wissenshunger war auf dem Grund seiner vielseitigen Seele! Er ist seine beherrschende Leidenschaft. Er möchte alles kennen bis zu den äußersten Grenzen des Realen und darüber hinaus bis zum Imaginären. Er sagt: Derjenige, der am meisten Bilder von Pflanzen und Tieren, am meisten Abbildungen von Maschinen, am meisten Beschreibungen und Darstellungen von Häusern oder Festungen gesehen hat, der am meisten erfindungsreiche Romane gelesen, am meisten interessante Erzählungen gehört hat, wird mehr Kenntnisse besitzen als andere, selbst wenn kein wahres Wort in all dem ist, was man ihm geschildert und erzählt hat ... Er hatte alles gelernt, zunächst Latein und Griechisch. Rhetorik und Poesie, so daß seine Lehrer, erstaunt über seine Unersättlichkeit, schon fürchteten, diese Anfangsstudien würden ihn nicht mehr loslassen. Aber gerade in diesem Augenblick machte er sich frei. Von der scholastischen Philosophie und der Theologie ging er zur Mathematik über, in der er später geniale Entdeckungen machen sollte, von der Mathematik kam er zur Jurisprudenz. Er befaßte sich mit Alchemie, denn er suchte ja das Verborgene, das Seltene, das, was vielleicht auf Wegen, die gewöhnlichen Sterblichen unzugänglich sind, zur Erklärung der Erscheinungen führen kann. Jedes Buch, jeder Mensch, denen er zufällig begegnete, forderte seinen Erkenntnisdrang heraus. Sich »wie mit einem Nagel« an einen bestimmten Fleck, eine bestimmte Disziplin, eine bestimmte Wissenschaft zu heften, das eben konnte er nicht ertragen. Einen bestimmten Beruf wählen, Advokat werden oder Professor, sich jeden Tag zur gleichen Stunde der gleichen Beschäftigung hingeben - nur das nicht! Er reiste, sah deutsche Städte, sah Frankreich, England, Holland, Italien, besuchte die Museen, pflegte Umgang mit den gelehrten Gesellschaften, bereicherte seinen Geist durch tausend Beziehungen und machte sein Leben zu einem ständigen Neuerwerben. Er willigte schließlich ein, Bibliothekar zu werden, um so dem unaufhörlichen Ruf aller menschlichen Gedanken sein Ohr zu leihen. Er wurde Historiograph, um so viel wie irgend möglich vom Vergangenen und Gegenwärtigen zu erfassen. Er korrespondierte mit aller Welt, war ein Berater der Fürsten und eine lebende Enzyklopädie, die immer bereit war, Auskunft zu geben. Aber der Sinn seines Daseins war, in der Welt einen Dynamismus zu verkörpern, der unerschöpflich schien, weil er nie aufhörte, immer neue Tatsachen, Ideen, Gefühle, immer neue Menschlichkeit einzusaugen. (Fs)

256a Aus seinem ständig arbeitenden, die neuen Erkenntnisse jeder Art bewegenden und einschmelzenden Bewußtsein entsprangen, je nach der Laune des Tages, nützliche Erfindungen, philosophische Systeme oder großherzige Träume. Er beherrschte schließlich alle Wissenschaften und alle Künste, ganz abgesehen von dem unendlichen Material für seine idealen Konstruktionen. Er war, wie man von ihm gesagt hat, »Mathematiker, Physiker, Psychologe, Logiker, Metaphysiker, Historiker, Jurist, Philologe, Diplomat, Theologe und Moralist«, und an dieser märchenhaften Aktivität, die wir in diesem Maß wohl bei keinem andern Menschenkind finden, gefiel ihm am besten ihre Mannigfaltigkeit: utiqae enim delectat nos vaiietas. (Fs)

256b Utique delectat nos varietas, sed reducta in unitatem2. Die Zurückführung auf die Einheit, das ist in der Tat die zweite große Leidenschaft von Leibniz. Er empfindet die Gegensätze weniger stark als die Übereinstimmungen und richtet sein Augenmerk darauf, die Reihe der winzigen Abstufungen zu erkennen, die das Licht mit dem Schatten, das Nichts mit dem Unendlichen verbinden. Er möchte einen Zusammenschluß zwischen den Gelehrten herbeiführen: denn woher kommt es, daß die Wissenschaft so langsam vorankommt, wenn nicht von der Isolierung derer, die sie pflegen? Man schaffe in jedem Land Akademien, und diese mögen dann von Nation zu Nation die Verbindung aufnehmen, dann werden die Kanäle des Geistigen Fluten neuer Erkenntnis herbeitragen und die Erde befruchten. Und noch mehr! Leibniz möchte eine Universalsprache schaffen. In Wahrheit bietet die Welt ein schmerzliches Schauspiel der Uneinigkeit und Zerrissenheit: überall Barrieren, Anfragen, die ohne Antwort bleiben, Anläufe der Wahrheit entgegen, die verurteilt sind, im Nichts zu enden: eine Verwirrung, die seit Jahrhunderten andauert. Sollte es nicht möglich sein, wenigstens einige der Hindernisse zu beseitigen, deren Anblick allein die Vernunft beleidigt, und sollte man sich, um einen Anfang zu machen, nicht über den Sinn der Worte einigen können? Man müßte eine Sprache schaffen, die für alle Geltung hätte, und die nicht nur die internationalen Beziehungen erleichterte, sondern ihrem Wesen nach von solcher Klarheit, Präzision, Geschmeidigkeit und von einem solchen Reichtum wäre, daß sie in sich die vernünftige und sinnliche Evidenz darstellen würde. Man würde sich ihrer für alle geistigen Betätigungen bedienen, wie die Mathematiker es mit der Algebra tun: nur wäre es eine konkrete Algebra, in welcher jeder Terminus beim ersten Blick das Bild aller möglichen Beziehungen zu verwandten Ausdrücken aufsteigen ließe. Man besäße somit eine »universelle Charakteristik«, das feinste Instrument, dessen der menschliche Geist sich je bedient hätte. (Fs)

257a Leibniz leidet unter der Uneinigkeit Deutschlands, unter der Uneinigkeit Europas, das er befrieden und dessen Überfluß an kriegerischen Energien er notfalls nach dem Orient ablenken möchte. Und wenn wir in die tieferen Regionen seines Geistes vordringen, so finden wir dort die gleiche Sehnsucht: Seine große Entdeckung auf dem Gebiet der Mathematik, die Infinitesimalrechnung, bedeutet einen Übergang vom Unstetigen zum Stetigen; sein großes psychologisches Gesetz ist das der Kontinuität: eine deutliche Wahrnehmung ist an dunkle Wahrnehmungen gebunden, die uns allmählich über eine Reihe nicht wahrnehmbarer Abstufungen bis zur ursprünglichen Schwingung der Lebenskraft hinleiten. Harmonie bleibt die höchste metaphysische Wahrheit. In ihr lösen sich schließlich alle unvereinbar erscheinenden Mannigfaltigkeiten auf, indem sie sich zu einem Ganzen zusammenfügen, in dem jede auf Grund einer göttlichen Ordnung ihren Platz hat. Das Universum ist ein gewaltiger Chor; das Individuum bildet sich ein, es singe seinen Gesang alleine, aber in Wirklichkeit folgt es nur für sein Teil einer unendlichen Partitur, in der jede Note so eingefügt worden ist, daß alle Stimmen sich entsprechen und ihr Zusammenklang eine Musik hervorruft, die vollkommener ist als die Harmonie der Sphären, von der Plato träumte3. (Fs) (notabene)

258a Lesen wir noch einmal die schöne Stelle, in welcher Emile Boutroux die Schwierigkeiten hervorhebt, auf die ein so gearteter Geist in eben der Zeit stoßen mußte, in der er zur Welt kam. - »Die Aufgabe ist nicht die gleiche wie für die Menschen des Altertums. Er findet ausgesprochene Gegensätze vor, die durch das Christentum und das moderne Denken entstanden sind, Unvereinbarkeiten, wenn nicht sogar richtige Widersprüche in einem Ausmaß, wie sie die Antike nie gekannt hat. Das Allgemeine und Besondere, das Mögliche und das Tatsächliche, das Logische und das Metaphysische, das Mathematische und das Physikalische, Mechanismus und Teleologie, Materie und Geist, Erfahrung und angeborene Erkenntnis, universale Bindung und Spontaneität, Verkettung von Ursache und Wirkung und Freiheit des Menschen, die Vorsehung und das Böse, Philosophie und Religion, all diese Gegensätze sind ihrer gemeinsamen Elemente durch die Analyse mehr und mehr beraubt worden und stehen sich so schroff gegenüber, daß es unmöglich scheint, sie miteinander zu versöhnen, und daß sich einem nach Klarheit und Folgerichtigkeit trachtenden Denken die Entscheidung für die eine Seite unter völliger Ablehnung der anderen aufzudrängen scheint. Unter solchen Umständen setzt Leibniz sich das Ziel, die Aufgabe des Aristoteles wieder aufzunehmen und die Einheit und Harmonie der Dinge, die der menschliche Geist scheinbar nicht mehr begreifen kann und vielleicht sogar nicht mehr zugeben will, wieder aufzufinden4. (Fs)

259a So stellte sich dieser wunderbare, zugleich kühne und ruhige Kopf zu einer Zeit, da die Ideen mit einer bis dahin unbekannten Heftigkeit gegeneinander zum Kampf antraten, absichtlich auf einen so hohen Standpunkt, daß jede Wahl, die das Gegensätzliche ausschloß, ihm nicht ein Anzeichen der Stärke, sondern ein solches der Schwäche und des Verzichtes erschien. Würde er ans Ziel gelangen? Wenn er nun zu den Tatsachen hinuntersteigt, von der Spekulation zum Praktischen übergeht und das zerrissene und verwundete religiöse Bewußtsein seiner Zeitgenossen durch das Mittel der Versöhnung zu heilen versucht, so fragt sich, ob ihm das gelingen wird, oder ob er nichts tun wird, als dem bestehenden Schisma auch noch den Charakter der Unabänderlichkeit zu verleihen. War es möglich, selbst für ein Genie, von allen Überlieferungen gerade die Idee der »Christenheit« zu retten? (Fs)

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