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Autor: Hazard, Paul

Buch: Die Krise des europäischen Geistes

Titel: Die Krise des europäischen Geistes

Stichwort: Leibniz; Reformation, Einigung der Kirchen; methodus reducendae unionis ecclesiasticae inter Romanenses et Protestantes; Arnauld; Systema theologicum

Kurzinhalt: ... die Freidenker, die Deisten und sogar die Atheisten führen gegen den Glauben einen Kampf, der täglich an Kühnheit zunimmt und dem nur geteilte Kräfte begegnen. Wenn es dagegen Katholiken und Protestanten gelänge ...

Textausschnitt: 259b Sobald man Europa betrachtet, fällt der Blick auf eine Wunde: seit der Reformation ist seine Einheit zerbrochen. Seine Bewohner sind in zwei Parteien gespalten, die sich feindlich gegenüberstehen. Kriege, Verfolgungen, bitterer Streit, Beschimpfungen sind das tägliche Brot dieser feindlichen Brüder. Die erste Aufgabe dessen, der von Harmonie träumt, muß es sein, eine Krankheit zu heilen, die von Tag zu Tag schlimmer wird. Seit 1660 ist der Kampf zwischen Katholiken und Protestanten tatsächlich wieder heftiger geworden. Bis zu welchem Übermaß wird er sich noch steigern? Wenn er andauert, wird es bald mit dem Glauben aus sein, mit jedem Glauben; denn die Freidenker, die Deisten und sogar die Atheisten führen gegen den Glauben einen Kampf, der täglich an Kühnheit zunimmt und dem nur geteilte Kräfte begegnen. Wenn es dagegen Katholiken und Protestanten gelänge, sich zu verständigen, so würde die versöhnte Christenheit in ihrer Einigkeit eine unwiderstehliche Kraft finden, gemeinsam gegen den Unglauben aufstehen und die Kirche Gottes retten. (Fs)

260a Leibniz stellt all seine Kräfte dem Werk der Einigung zur Verfügung. Er kennt die Ansprüche der beiden Parteien. Er hat die Streitschriften ausgiebig gelesen und weiß sogar, daß sie im allgemeinen nicht viel Gutes enthalten. Er kennt die Menschen. Er ist nicht der erste beste, da er durch seine Entdeckungen Anspruch auf einiges Ansehen bei denkenden Menschen hat: in allen Ländern Europas können erstklassige Gelehrte für ihn gutsagen. Er ist Lutheraner; aber er will, nach einem Wort, das er in der Bemühung um sein schönes Ziel, die Einigung der Kirchen, geäußert hat, nicht »unterscheiden, was unterscheidet. ..«. Um eine Methode zu finden, braucht er nur seiner natürlichen Neigung zu folgen, braucht er nur zu zeigen, daß die Abweichungen nicht wesentlich sind, daß die Ähnlichkeiten zahllos sind und fast einer Identität gleichkommen, und kann so versuchen, eine allgemeine Einigung auf Grund der einfachsten Formen des Glaubens, die zugleich die tiefsten sind, herbeizuführen. (Fs)

260b Zur Zeit seiner Reise nach Paris hatte er bei Arnauld, dem Jansenisten, ein Vaterunser gesprochen, das nach seiner Meinung alle akzeptieren konnten: »O Du einiger, ewiger und allmächtiger Gott, Du einziger wahrhaftiger und unendlich herrschender Gott; ich, Dein armseliges Geschöpf, glaube an Dich und hoffe auf Dich; ich liebe Dich über alles, ich bete zu Dir, lobe Dich, danke Dir und weihe mich Dir. Vergib mir meine Schuld und gib mir und allen Menschen das, was nach Deinem gegenwärtigen Willen für unser zeitliches und ewiges Wohl nützlich ist, und bewahre uns vor allem Übel. Amen.« Aber Arnauld hatte dieses Gebet zurückgewiesen, weil es den Namen Jesu Christi nicht enthielt. Es würde immer Leute geben, die seine Formulierungen zurückwiesen, und die Aufgabe würde nicht sehr einfach sein, aber zum mindesten wollte er sie in Angriff nehmen. Hatte er damit Erfolg, so würde er für sein Teil jene Harmonie verwirklichen, die das Gesetz des Universums ist. Mißlang es, so trugen andere die Verantwortung, die Verstockten, die Blinden; andere würden das Schisma verlängern, es unheilbar machen und den Zusammenbruch des religiösen Bewußtseins von Europa vollenden. (Fs)

261a Vorbereitende Arbeiten dehnen sich über Jahre aus. Sie beginnen schon 1676, als Leibniz, der seinen Weg auf dem Gebiet der Alchemie abtastet, in Nürnberg einen Adepten dieser Kunst, den Freiherrn v. Boinebourg, findet, einen bekehrten Protestanten, der seine besten Jahre den »irenischen Verhandlungen«, wie man damals sagte, widmete. Boinebourg nimmt ihn nach Frankfurt mit, dann an den Hof zu Mainz, wo die religiösen Kontroversen gerade in vollem Gange sind. Als Leibniz 1676 bei seiner Rückkehr aus Paris die Stelle eines Bibliothekars in Hannover annimmt, trifft er in der Person des Herzogs Johann Friedrich, eines katholischen, aber über protestantische Untertanen herrschenden Fürsten, auf den Mann, durch den Rom Norddeutschland zu bekehren hofft. Die Bewegung beschleunigt sich, die Akteure auf der Hannoveraner Bühne sind mächtig bei der Arbeit: Ernst August, der Nachfolger von Johann Friedrich, und der Bischof Spinola, ein Schützling des Kaisers, der zwischen Wien, den deutschen Fürstentümern und Rom hin und her fährt und die Fäden der Einigung spinnt. Im Jahie 1683 bringt Spinola eine Formulierung, die als Basis dienen soll, Regalae circa christianorum omnium ecclesiasticam reunionem. Die Theologen aus beiden Lagern versammeln sich, halten Besprechungen ab und arbeiten unter dem geistigen Einfluß von Molanus, dem Abt von Lockum - einem Menschen von großzügigem Geist und Herzen - eine Methode aus, die endlich die langersehnte Aussöhnung herbeiführen soll: Methodus reducendae unionis ecclesiasticae inter Romanenses et Protestantes. (Fs)

261b Leibniz geht weiter als alle. Um die Zeit, da im französischen Reich die Aufhebung des Ediktes von Nantes vorbereitet und vollzogen wird, bleibt er den vorübergehenden Gewalttaten gegenüber unempfindlich und überzeugt, daß der Geist der Einigkeit die Wahrheit und das Leben ist. Er sinnt nach und verfaßt jenes Glaubensbekenntnis, das man Systema theologicum nennt und das in einem so ernsten und schönen Ton gehalten ist: nachdem ich durch lange und inbrünstige Gebete den göttlichen Beistand erfleht habe, habe ich, soweit es dem Menschen möglich ist, jeden Parteigeist beiseite getan und über die religiösen Streitigkeiten so nachgesonnen, als ob ich aus einer neuen Welt käme ... Als einfältiger, mit keiner der Konfessionen vertrauter und von jeder Verpflichtung freier Neuling habe ich nach reiflicher Überlegung schließlich die Punkte niedergelegt, die ich nun darlegen werde: ich habe geglaubt, sie annehmen zu müssen, weil die Heilige Schrift, die Autorität des gläubigen Altertums, die gesunde und aufrechte Vernunft selbst und das zuverlässige Zeugnis der Tatsachen sich mir alle zu vereinigen scheinen, um jeden vorurteilsfreien Menschen davon zu überzeugen ... (Fs)

262a Welche Überzeugung meint er? Er hat nicht nur die Dogmen über die Existenz Gottes, die Erschaffung des Menschen und der Welt, die Erbsünde, die Mysterien nachgeprüft, sondern auch die am heftigsten umstrittenen Punkte der religiösen Praxis, die frommen Gelübde, die Werke, die Zeremonien, die Bilden den Heiligenkult. Er ist danach überzeugt, daß nichts im Wege steht, daß Katholiken und Protestanten sich einander nähern, sich einigen und, indem beide Teile in bezug auf ein paar scheinbare Schwierigkeiten nachgeben, die Einheit des Glaubens wiederherstellen. Folgendermaßen äußert er sich über die katholischen Ordensregeln, die gerade den Zorn oder die Verachtung seiner Glaubensbrüder, der Lutheraner, hervorrufen:

Ich gestehe, daß die religiösen Orden, die frommen Bruderschaften, die heiligen Vereinigungen und alle anderen derartigen Einrichtungen immer meine ganz besondere Bewunderung hervorgerufen haben. Sie sind so etwas wie auf Erden kämpfende himmlische Heerscharen, sofern man nur jeden Mißbrauch und jede Korruption fernhält, sie im Sinne und nach den Regeln ihrer Gründer leitet, und wenn der souveräne Pontifex sie zum Nutzen der universellen Kirche einsetzt. (Fs)

Oder noch besser: Die Töne der Musik, der sanfte Zusammenklang der Stimmen, die Poesie der Hymnen, die fromme Beredsamkeit, der Glanz der Lichter, die Wohlgerüche, die reichen Gewänder, die mit kostbaren Steinen verzierten Vasen, die reichen Geschenke, die die Frömmigkeit anregenden Statuen und Bilder, die Gesetze einer erfahrenen Architektur, die Wirkungen der Perspektive, die Feierlichkeit der öffentlichen Prozessionen und die reichen Teppiche, welche die Straßen schmücken, der Klang der Glocken, in einem Wort all jene Ehren, welche die Frömmigkeit des Volkes so gern darbringt, begegnen, glaube ich, bei Gott nicht jener Verachtung, welche die verdrießliche Einfachheit einiger Menschen unserer Tage zu empfinden vorgibt. Das bestätigen im übrigen sowohl die Vernunft als die Tatsachen ... (Fs)

263a Kann man sich danach wundern, daß man Leibniz in Rom, wohin ihn 1669 seine historiographischen Arbeiten und seine allumfassende Wißbegierde führen, die Leitung der Vatikanischen Bibliothek anbietet? Hat man dort nicht Grund anzunehmen, er sei im Herzen katholisch und ganz nahe daran, sich zu bekehren? (Fs)

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