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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: desiderium naturale - Aristoteles; Denkmöglichkeit eines Menschen ohne Gnade

Kurzinhalt: Wäre es theoretisch möglich, einen Menschen zu denken, der nicht zum Leben der Gnade erhoben wurde? So sagt Aristoteles: "Wer aber in der Kontemplation tätig ist und die Vernunft in sich pflegt, ...

Textausschnitt: f) Desiderium naturale und die Denkmöglichkeit eines natürlichen Menschen

83b Die eben gestellte Frage ist natürlich wiederum eine theologische, und als solche braucht sie hier auch gar nicht erörtert zu werden. Nur ein Aspekt der Frage sei hier erwähnt: Wäre es theoretisch möglich, einen Menschen zu denken, der nicht zum Leben der Gnade erhoben wurde? Diese an sich ebenfalls theologische Frage ist insofern philosophisch von Belang, als ihre Beantwortung uns darüber Aufschluss geben kann, ob denn trotz der Existenz eines desiderium naturale, das über das durch die Kräfte der Natur Erreichbare hinausweist, überhaupt noch von einer rein philosophisch relevanten "menschlichen Natur" gesprochen werden kann, oder ob diese nicht vielmehr zu einem rein hypothetischen Restbegriff herabsinkt1. Die Frage ist also erneut: Ist unter den Bedingungen des Glaubens philosophische Ethik überhaupt noch zu rechtfertigen? (Fs)

84a Um die Frage zu beantworten müssen wir uns - für den Theologen ist das hypothetisch - einen Menschen denken, dessen faktisches (nicht in der Natur angelegtes) äußerstes Seinkönnen nicht in der Schau Gottes liegen würde. Dessen desiderium naturale, Gottes Wesen zu erfassen, also für immer ungesättigt bliebe. Ist das eine mögliche, zumutbare Perpektive? (Fs)

84b Die Frage ist insofern theologisch unlösbar und wohl auch letztlich nicht bedeutsam, weil theologisch nun einmal vom Faktum auszugehen ist, dass der tatsächlich existierende, aus Gottes Schöpfungshandeln hervorgegangene Mensch eben zur Ebene der Gnade erhoben worden ist, und zwar im Augenblick der Schöpfung selbst. Das heißt die theologische Antwort wäre: Gott zielte nun einmal mit der Erschaffung des Menschen von Anfang an auf dessen Erhebung zur Gottesschau. Und die Natur, die er ihm gab, ist darauf innerlich bereits angelegt und erfährt in dieser Erhebung ihre letzte, in Bezug auf das den Kräften dieser Natur Zustehende allerdings aus Gnade geschenkte, Vollendung. (Fs) (notabene)

84c Eine solche Antwort würde nun jedoch das Problem für den Philosophen nur verschärfen. Die theologische Antwort, so richtig sie sein mag, löst unser Problem nicht. Wir brauchen wiederum eine rein philosophische Antwort, die überhaupt nicht berücksichtigt, dass der Mensch tatsächlich durch Gnade erhoben wurde, sondern einfach feststellt: der Mensch besitzt eine Natur, deren innere Zielfhaftigkeit über das, was durch die Kräfte dieser Natur erreichbar ist, hinausweist. Das ist, es sei nochmals betont, rein philosophisch aufweisbar. Und auf dieser Grundlage wäre nun die Frage zu beantworten. (Fs)

84d Die Antwort hat uns nun tatsächlich Aristoteles, zumindest in gewisser Hinsicht, bereits gegeben. Der Intellekt, so lesen wir, ist etwas Göttliches das Beste in uns; ein Leben der reinen Kontemplation wäre daher eher ein göttliches als ein menschliches Leben. Wir müssen uns mit dem Menschlichen begnügen. Es wäre vermessen, wie die Götter glücklich sein zu wollen. Mit ihnen haben wir zwar etwas gemeinsam, und deshalb sollten wir uns bemühen so weit wie möglich diesem "Besten in uns" nachzuleben2. "Das Leben der Götter ist seiner Totalität nach glückselig, das der Menschen insofern, als ihnen eine Ähnlichkeit mit dieser Tätigkeit zukommt"3. Es kommt Aristoteles freilich nicht im Geringsten in den Sinn, von einer Demut zu sprechen, die darin bestünde, sich von den Göttern durch Erhebung auf ihr Niveau beschenken zu lassen, weil er von einer solchen Erhebung nichts wissen kann. "Demut", das kann in der Aristotelischen Perspektive nur heißen: Die eigene Endlichkeit und das Göttliche als "das ganz Andere über uns" anzuerkennen, und so weit wie möglich danach zu streben, sich die Gunst der Götter zu erwerben. (Fs)

84e So sagt Aristoteles: "Wer aber in der Kontemplation tätig ist und die Vernunft in sich pflegt, mag sie sich nicht nur an der allerbesten Verfassung erfreuen, sondern auch von der Gottheit am meisten geliebt werden. Denn wenn die Götter, wie man doch allgemein glaubt, um unsere menschlichen Dinge irgendwelche Sorge haben, muss man ja vernünftiger Weise annehmen, dass sie an dem Besten und ihnen Verwandtesten Freude haben - und das ist unsere Vernunft - und dass sie denjenigen, die dasselbe am meisten lieben und hochachten, mit Gutem vergelten, weil sie für das, was ihnen lieb ist, Sorge tragen und recht und löblich handeln. Es ist aber unverkennbar, dass dies alles vorzüglich bei dem Weisen zu finden ist. Mithin wird er von der Gottheit am meisten geliebt; wenn aber das so ist, so muss er auch der Glückseligste sein. Somit wäre der Weise auch aus diesem Grunde der Glücklichste"1. (Fs)

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