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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Philosophischer Ethik - Moraltheologie

Kurzinhalt: ... nichts anderes als eine philosophische Ethik des Nichtgläubigen. Aber der Nichtgläubige wird das Bruchstück für das Ganze halten.

Textausschnitt: 80c Aus der Lehre über die Zweistufigkeit des Glücks ergibt sich nun keineswegs, dass eine theologische Ethik oder Moraltheologie sich mit der "beatitudo perfecta", dem vollkommenen Glück des jenseitigen Lebens, die philosophische Ethik jedoch mit der "duplex felicitas" des diesseitigen Lebens zu beschäftigen hätte. Eine solche Arbeitsteilung wäre undenkbar. Die theologische Betrachtungsweise beinhaltet vielmehr das Ganze, aber aus einem ihr spezifischen Blickwinkel: auf Grund der Offenbarung, gewissermaßen aus der Perspektive Gottes, welche die Perspektive des zum Leben der Gnade berufenen Menschen ist. Dieses Leben beginnt ja hier auf Erden und es bleibt eben auch unter den Bedingungen der Gnade immer ein irdisches und unvollkommen glückliches Leben. Über das jenseitige Leben, da wissen auch die Theologen nur sehr Weniges zu sagen und eine praktische Wissenschaft, die es mit dem Zustand der vollkommenen Glückseligkeit zu tun hat, kann es gar nicht geben. Was darüber theologisch zu sagen ist, das ist wiederum nur für das diesseitige Leben von Belang: damit wir wissen, was wir zu hoffen haben. (Fs) (notabene)

80d Die philosophische Ethik hingegen betrachtet nur ein Bruchstück oder einen Ausschnitt des Ganzen. Nochmals: Vom Gegenstande her ist sie nichts anderes als eine philosophische Ethik des Nichtgläubigen. Aber der Nichtgläubige wird das Bruchstück für das Ganze halten. Und das wird ihn leicht dazu verleiten, entweder den Menschen selbst als Fragment und Bruchstück zu sehen, oder aber dieses Fragment zu einem Ganzen umzudeuten und entsprechend ergänzen zu wollen: Reduktionismus auf der einen und Verheißungsideologie oder innerweltliche Heilslehre auf der anderen Seite sind hier die Möglichkeiten. Hier wird eine unter dem Vorbehalt des Glaubens stehende philosophische Ethik stets als kritische Instanz gegenüber nichtgläubigen Philosophien auftreten können, die in der Perspektive der bloßen Philosophie "letzte Antworten" zu geben versuchen, - auch wenn diese letzte Antwort nur in der Feststellung bestünde, so etwas wie Glück sei in der Natur gar nicht vorgesehen1. (Fs) (notabene)

81a Zwei Präzisierungen: (1) Nichtgläubige Ethik meint nicht atheistische Ethik. Die Aristotelische Ethik ist ja eine nichtgläubige, aber keine atheistische Ethik. (2) Auch eine nichtgläubige Ethik kann von einem Leben nach dem Tod sprechen, und demnach von einem vollkommenen Glück in einem zukünftigen Leben. Beispiel: Platon. Unter der Bedingung des Glaubens aber ist ein solches Sprechen nur noch als Theologie von praktischer Relevanz. (Fs)
81b Gegenstandsbereich der philosophischen Ethik ist also der Bereich des Glücks des diesseitigen Lebens, und zwar so weit seine Bedingungen mit den Mitteln der bloßen Vernunft ausgemacht werden können. Nicht aber beschäftigt sich philosophische Ethik mit einem sogenannten "natürlichen Ziel" des Menschen, im Unterschied zu einem "übernatürlichen Ziel", wofür dann die Theologie zuständig wäre. Gerade eine solche "Zweistufentheorie" wird durch die thomanische Anthropologie und Handlungsmetaphysik des äußersten Seinkönnens des Menschen verunmöglicht. (Fs)

81c Dies sei kurz erläutert. Die Rede von der Koexistenz eines "natürlichen" mit einem "übernatürlichen" Ziel des Menschen würde nämlich entweder die Behauptung implizieren, der Mensch besitze zwei verschiedene Naturen, oder aber sie führte zur Konsequenz, die philosophisch erkennbare menschliche Natur sei gar nicht die wirkliche Natur des Menschen. Denn "Natur eines Seienden" und "Ziel eines Seienden" stehen ja in Korrelation und bedingen sich gegenseitig. Eine Natur kann auch nur ein Telos haben und ein Telos ist immer das Telos einer bestimmten Natur. Bedeutete "Erhebung zur Gnade", dass überhaupt erst durch diese Erhebung die Gottesschau zum äußersten Seinkönnen des Menschen gemacht würde, so hieße dies, dass die Natur des Menschen durch die Erhebung eben zu einer anderen Natur würde (diese notwendige Konsequenz pflegte die traditionelle Zweistufentheorie zu übersehen). Es wäre dann gar nicht mehr möglich, eine "Ordnung der Natur" von einer "Ordnung der Gnade" zu unterscheiden; letztere wäre dann einfach die wirkliche Natur des Menschen, die erstere - als sogenannte "natura pura" - ein unwirkliches Konstrukt von Philosophen. Der Begriff "übernatürlich" würde in Wahrheit obsolet bzw. alles, auch die Natur, würde "übernatürlich", - eine Konsequenz, die dann auch von einigen Theologen tatsächlich gezogen wurde. (Fs) (notabene)

81d Was Thomas nun aber sagt, ist ja gerade, dass die Natur des Menschen auf die Möglichkeit einer solchen Erhebung schon angelegt ist und dass sie in der Erhebung als jene Natur, die sie immer schon war, erhoben ist. Der Mensch bleibt auch durch die Erhebung jener Mensch, der er auch ohne Erhebung wäre. Diese ist nicht eine äußere, auf den Menschen gleichsam aufgestockte neue Bestimmung, sondern jene, die bereits in der Natur, genauer: in der Natur des Intellektes angelegt ist. Der Mensch wird durch die Erhebung nicht nur der göttlichen Natur teilhaftig, sondern er gelangt durch sie auch zum Äußersten seines menschlichen Seinkönnens; nur kann er dieses Äußerste allein aufgrund der Kräfte seiner Natur nicht erreichen. (Fs) (notabene)

82a Wenn wir den Menschen betrachten, wie wir das in der Philosophie tun, so abstrahieren wir vom Faktum der Erhebung. Was zurückbleibt ist jedoch ein Mensch, der anthropologisch gesehen genau dasselbe Ziel, dasselbe in seiner Natur angelegte äußerste Seinkönnen besitzt, wie der zum Leben der Gnade erhobene. Mit "Ziel" ist hier eben gerade auf die innere - teleologische - Seinsstruktur der Natur verwiesen: Das natürliche Bestreben des Intellektes, im Erkenntnisfortschritt nicht zu ruhen, bis er das "Was es ist" von all dem erfasst hat, dessen bloßes "Dass es ist" ihm gegenständlich zu sein vermag. (Fs) (notabene)
1.Kommentar (05.10.06): Interessanter Aspekt des desire to know.

82b Was die Theologen richtigerweise meinen, wenn sie "natürliches" von "übernatürlichem Ziel" unterscheiden, ist etwas ganz anderes: Sie betrachten die Dinge aus der Perspektive der biblischen Offenbarung und beziehen sich dann auf das "Ziel", das dem Menschen von Gott her gesetzt wurde, also auf die von Gott her an den Menschen ergangene Berufung. Hier nun hat die Unterscheidung einen Sinn. Es wäre dann möglich zu sagen, der Philosoph betrachte den Menschen, als ob Gott ihm nur ein natürliches Ziel gesetzt hätte, das heißt: jenes Ziel, das er mit den Kräften seiner Natur allein erreichen kann; der Theologe jedoch gehe aufgrund der Offenbarung davon aus, dass Gott den Menschen von Anfang an zu einem übernatürlichen Leben bestimmt und berufen hat, d.h. zu jenem Ziel, das er nur mit Hilfe der Gnade zu erreichen vermag - deshalb aber um nichts weniger Jenes ist, worauf menschliche Natur als auf ihr äußerstes Seinkönnen schon immer hinzielt. (Fs) (notabene)

82c Wenn also die Theologen ein "natürliches" von einem "übernatürlichen" Ziel unterscheiden, so tun sie das zu Recht, meinen aber damit etwas spezifisch Theologisches: Die Unterscheidung dessen, was man mit den Kräften der Natur erreichen kann, von jenem, wozu es der Gnade bedarf. Eine solche Unterscheidung setzt aber bereits die theologische Perspektive und Methode voraus. Diese Unterscheidung ist demnach für die philosophische Perspektive, auch die des Glaubenden, irrelevant. Denn die Philosophie spricht ja überhaupt nicht von dem, was der Mensch nur mit Hilfe der Gnade zu erreichen vermag. Sie spricht ganz einfach über den Menschen, so wie er der Vernunft erkennbar ist. Und dieser Mensch nun - dies ergibt sich aus aus der handlungsmetaphysischen Analyse - besitzt nur ein Ziel, nämlich jenes, das ihn über seine Natur hinausweist und das er mit den bloßen Kräften seiner Natur nicht zu erreichen vermag. Die Perspektive der philosophischen Ethik ist demnach von Anfang an die Perspektive des unvollkommenen Glücks eines Wesens, das aufgrund seiner Natur die Vollkommenheit, das Letzte und Äußerste dessen, was in ihm angelegt ist, gar nicht erreichen kann. Das ist wiederum die Aristotelische Perspektive. (Fs)

82d Eine philosophische Ethik des Glaubenden braucht nicht die Unsterblichkeit (die zum Gegenstand philosophischer Anthropologie gehört) und ein Leben nach dem Tode auszuklammern. Es wäre falsch zu meinen: theologische Ethik beschäftigt sich mit dem Jenseits; philosophische Ethik mit dem Diesseits. Die theologische Ethik beschäftigt sich, insofern sie praktische Wissenschaft ist, gerade mit dem diesseitigen Leben des durch Gnade zur Vollkommenheit der Gottesschau berufenen Menschen. Die philosophische Ethik des Glaubenden jedoch kann sich nicht mit einem "natürlichen Glück des jenseitigen Lebens" beschäftigen, ganz einfach weil der Glaubende, auch als Philosophierender, weiß, dass es so etwas gar nicht gibt. Sein Hinblick auf das, was nach dem Tode folgt, muss sich auf die philosophisch aufweisbaren anthropologischen Bestände beschränken, die ein solches Leben nach dem Tode ermöglichen. Alles andere bliebe Spekulation ohne Wirklichkeitsbezug. (Fs)

82e Die philosophische Perspektive des unvollkommenen Glücks ist jedoch, wie bereits gesagt, äußerst gefährdet, und nur unter dem Vorbehalt des Glaubens ist sie eigentlich letztlich ertragbar. Der Glaube stützt hier geradezu die philosophische Vernunft und bewahrt sie vor Resignation oder überschwänglicher irdischer Verheißungsideologie. Er fügt den möglichen menschlichen Glückstheorien nicht eine weitere hinzu, sondern bewirkt eine "kopernikanische Wende des Eudämonismus"2, die letztlich darin besteht, dass das "Inbild vollkommenen Glücks", das wir in uns tragen unter den empirischen Bedingungen menschlicher Endlichkeit aber nicht adäquat zu realisieren vermögen, weder dazu führt, Glücksverheißung als Chimäre abzutun, noch dazu verleitet, unter den Bedingungen unserer Endlichkeit ihre Verwirklichung herbeizwingen zu wollen (vgl. dazu den "Epilog")3. (Fs)

83a Doch stellt sich nun noch eine ganz andere Frage: Ergibt sich aus der Lehre vom "desiderium naturale" - der Lehre von der inneren, naturhaften Hinordnung des Menschen auf die Schau Gottes als seinem äußersten Seinkönnen - die Notwendigkeit einer Erhebung zum Leben der Gnade? Muss man nicht sogar diese Erhebung geradezu aus dieser Tatsache ableiten können, so dass die Anthropologie der "beatitudo perfecta" und des äußersten menschlichen Seinkönnens geradezu notwendigerweise zur Theologie werden muss? Ist umgekehrt ein rein "natürlicher" Mensch überhaupt als sinnvolle und zumutbare Existenz denkbar, oder wäre ein solcher nicht vielmehr zur Frustration verurteilt? (Fs)

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