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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Thomas: Glück; desiderium naturale, capax Dei, potentia oboedientialis

Kurzinhalt: Aber diese Fähigkeit Gott zu schauen heißt nun, wie Thomas sagt, etwas genau Bestimmtes, nämlich "dass es unserer Seele möglich ist, das Wesen Gottes intellektiv zu schauen"

Textausschnitt: 77a Was ist damit aber zunächst einmal über den Menschen gesagt? Gesagt ist, dass der Mensch aufgrund der ihm zustehenden Natur (des Intellektes) fähig ist, Gott zu schauen. Damit ist gemeint: Die Natur des menschlichen Intellektes, und damit der Mensch überhaupt, ist capax Dei, "gottfähig"1, ist fähig Gott erkennend in sich aufzunehmen. "Fähig" heißt hier: Das ist möglich, ohne dass die Natur des Intellektes, und die des Menschen überhaupt, dabei in irgend einer Weise vergewaltigt oder gar verändert würde. Obwohl Gott als Erkenntnisgegenstand sich zum Menschen wie das Unendliche zum Endlichen verhält, so bleibt der Gott-schauende Mensch dennoch Mensch. Der Mensch ist als Mensch fähig trotz seiner Endlichkeit das Unendliche in seinem Besitz zu haben, in ihm zu ruhen (Sättigung des Willens) und sich seiner zu erfreuen, und zwar nicht als passives Überwältigtwerden durch ein schlechthin Höheres, sondern indem dieses Höhere, das Leben Gottes selbst, zu seinem eigenen Leben wird. Es handelt sich also gerade auch um eine letzte und intensivste Steigerung menschlicher Subjektivität. (Fs) (notabene)


77b Diese Aussage nun ist, wenn man sie recht bedenkt, geradezu überwältigend. Der Ausspruch des Aristoteles, dass der Intellekt etwas Göttliches in uns ist, erhält hier eine ganz neue Färbung und Aktualität in der Dimension dessen, was die christliche Tradition die Gottebenbildlichkeit des Menschen nannte. Aber diese Fähigkeit Gott zu schauen heißt nun, wie Thomas sagt, etwas genau Bestimmtes, nämlich "dass es unserer Seele möglich ist, das Wesen Gottes intellektiv zu schauen"1. Diese "Möglichkeit" meint: Wird die menschliche Seele der Schau Gottes teilhaft, so geschieht dies als Aktualisierung einer bereits in der Natur der menschlichen Seele angelegten Potenz oder Disposition der Intellektualität, die dadurch als Intellektualität zu jenem Letzten gelangt, auf das hin ihre Natur angelegt ist; diese Naturanlage ist mit der Rede vom naturale desiderium (Naturverlangen) gemeint. (Fs)

77c Nun kommt jedoch sogleich ein Zweites hinzu, und erst damit gelangt der thomanische Traktat über das Glück dann auch zu seinem Abschluss: "Gott seinem Wesen nach zu schauen übersteigt die Kraft nicht nur der menschlichen Natur, sondern derjenigen eines jeden Geschöpfes"2. Auch wenn der Mensch "capax Dei" ist, also in sich die Fähigkeit besitzt, Gott intellektiv zu schauen, so vermag er das doch nicht aus natürlichen Kräften zu erreichen. Erstens beginnt jede menschlich-intellektive Erkenntnis bei den Sinnen; das Wesen Gottes kann aber nicht aus sinnlichen Gegenständen abstrahiert werden3. Zweitens ist nun eben Gott unendlich, die Fassungskraft des menschlichen Intellektes jedoch endlich. Denn Gott schauen, das hieße ja Unendliches zugleich schauen. Und schon das ist dem menschlichen Intellekt nicht möglich. Aus eigenen Kräften kann der Mensch deshalb die letzte und vollkommene Beatitudo, gar nicht erreichen; er bedarf dazu der Hilfe und Initiative Gottes: der erhebenden Gnade. Die Fähigkeit Gott zu schauen ist - wie die Theologen später sagten - nur eine "potentia oboedientialis": Ein Vermögen, sich dem Emporgehoben-Werden auf das Niveau Gottes zu fügen. Diese "elevatio" ermöglicht Konnaturalität von Mensch und Gott, und zwar dadurch, dass "Gott sich durch seine Gnade mit dem geschaffenen Intellekt, als sein Erkenntnisgegenstand, vereint"4. Dennoch liegt diesem "Sich-fügen" ein menschliches Vermögen zugrunde, und das heißt wiederum: Ein solches Emporgehoben-Werden entspricht der Natur des menschlichen Intellektes. Die "elevatio" durch Gnade setzt die Natur voraus und vervollkommnet sie, bringt sie zur Erfüllung der letzten in ihr selbst bereits angelegten Möglichkeit, zu ihrem äußersten Seinkönnen, ohne sie zu verändern oder als menschliche aufzuheben. Im Begriff eines äußersten menschlichen Seinkönnens ist ja nicht notwendigerweise ein Äußerstes mitgedacht, das der Mensch aus eigener Kraft zu erreichen vermag. Der Begriff ist gewahrt in der Möglichkeit eines Seinkönnens, welches das im Menschen von Natur aus Angelegte zur letzten Vollendung bringt, auch wenn zum Erwirken der Vollendung die Kraft des zur Vollendung Gebrachten nicht ausreicht. Auch dann bleibt dieses Äußerste immer noch das Äußerste des Menschen. Solange der Mensch Gott nicht schaut, bliebe das "naturale desiderium" des Intellektes, und damit etwas, was im Menschen naturhaft angelegt ist, unausge-füllt51. Der Mensch ist also - so lautet das paradox scheinende Ergebnis - von Natur aus auf ein Glück angelegt, das er mit den Kräften dieser ihm eigenen Natur gar nicht zu erreichen vermag. Das vollkommene Glück kann demnach auch nicht ein praktisches Gut sein, bevor Gott nicht mit seiner Gnade interveniert und es dadurch zu einem solchen macht. Die Analyse, die zu diesem Ergebnis führt, war jedoch, das ist zu betonen, rein philosophischer Natur. (Fs) (notabene)

78a Alles weitere ist nun Sache des Theologen. Denn die vollkommene Beatitudo, so wissen wir als Gläubige aufgrund der Offenbarung, ist uns von Gott tatsächlich versprochen1. Thomas zitiert Aristoteles und seine etwas resignierte Formel, dass wir eben "nur als Menschen", auf eine unvollkommene Weise glücklich werden können2. Allein durch Offenbarung, so sagt uns Thomas, wissen wir also, dass die vollkommene Beatitudo tatsächlich erreichbar und damit auch das höchste praktische Zielgut ist, das wir jedoch allein durch die Hilfe der Gnade, erreichen können. Sie ist praktisches Zielgut durch Verheißung und im Horizont von Glaube, Liebe und Hoffnung. (Fs) (notabene)

78b Damit ist schon klar, dass es eine philosophische Ethik im Kontext der christlichen Offenbarung gar nicht mit dem vollkommenen Glück und dem "letzten Ziel" zu tun haben kann. Es wird jetzt möglich, den Gegenstand einer solchen philosophischen Ethik genauer einzugrenzen. Wir werden sehen, dass sie sich substantiell von dem durch Aristoteles bestimmten Gegenstand gar nicht unterscheidet. Was sie unterscheidet ist dennoch etwas ganz Wesentliches: Sie weiß, dass philosophische Ethik nicht das letzte Wort ist, sondern eine Theorie der Praxis, die uns nur ein Fragment, einen Ausschnitt aus dem Ganzen, zu liefern vermag. Auch die Aristotelische Ethik ist freilich fragmentarisch. Dies jedoch, weil in jeder "nicht-gläubigen" Ethik und Anthropologie der Mensch eben überhaupt ein Fragment bleibt. Eine philosophische Ethik unter dem Vorbehalt des Glaubens jedoch ist fragmentarisch, weil sie weiß, dass diese fragmentarische Sicht des Menschen nicht das letzte Wort über die Wahrheit des Menschen ist. Sie weiß, dass das Fragmentarische nur Ausschnitt und nicht das Ganze ist. (Fs)

79a Aus diesem Grund ist auch eine systematische, gleichsam eigenständige und mit dem Anspruch auf Vollständigkeit und Geschlossenheit auftretende "philosophische Ethik" unter christlichen Bedingungen nicht denkbar3, ja sie müsste gerade vom Glauben her als unwahr bezeichnet werden. Das bedeutet nun aber eben nicht, dass deshalb unter solchen Bedingungen überhaupt keine philosophische Ethik möglich ist. Sie ist sehr wohl möglich und auch nötig, schließt aber als eine ihrer Grundaussagen ihren eigenen Fragmentcharakter mit ein. Das ist, philosophisch gesehen, gegenüber "nichtgläubiger" philosophischer Ethik wiederum kein Nachteil, sondern eher ein Vorteil, da auch nichtgläubige Ethik notwendigerweise fragmentarisch bleiben muss, will sie nicht die Möglichkeiten des menschlichen Verstandes überspannen. Das Aushalten dieses fragmentarischen Charakter aller praktischen Orientierung ist allerdings für nichtgläubige Vernunft eine kaum zu ertragende Belastung und Gefährdung. (Fs) (notabene)

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