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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Sittliche Handlungen als "immanente Tätigkeiten"; Praxis, Poiesis; oparatio transiens, immanens; das "gute" Leben; agathon

Kurzinhalt: ... dass die Perspektive der Praxis jene ist, in der es um Verwirklichung des Guten im handelnden Subjekt geht. Es geht darum, was die Griechen das "gute Leben" nannten

Textausschnitt: 59b Wenn wir bisher von Praxis sprachen, so haben wir auch das Kunsthandeln (Kunst und Technik) darin eingeschlossen. Denn auch Häuser bauen oder Schuhe fertigen ist ja eine Art von Praxis. Ebenso sind es die Tätigkeiten des Arztes oder des Künstlers. (Fs)
59c Um den Begriff "sittliche Handlung" als "menschliche Handlung" noch genauer zu bestimmen, müssen wir nun eine Unterscheidung zwischen Praxis im eigentlichen Sinne und Kunsthandeln einführen. Es ist die Unterscheidung zwischen "Praxis" und "Poiesis", zwischen "Handeln" und "Herstellen" (Fertigen, Produzieren, usw.). (Fs)

59d Die Unterscheidung meint nicht, dass alles, was ein Mensch tut, entweder Handeln oder Herstellen ist. Jedes Herstellen ist immer auch ein Handeln, eine Praxis. Aber gerade dieses "immer auch" rechtfertigt die Unterscheidung. Ein Arzt stellt die Gesundheit seiner Patienten her; ein Architekt konstruiert Häuser; ein Schuster fertigt Schuhe. Stirbt der Arzt, der Architekt oder der Schuster, so ist das Produkt seines Hersteilens - die Gesundheit der Patienten, die Häuser oder Schuhe - davon nicht betroffen. Das Herstellen nennt man deshalb eine "transeunte" Tätigkeit (operatio transiens1). Transeunte Tätigkeiten sind solche, deren Ergebnis "außerhalb" des Tätigen verbleiben und deshalb auch ohne ihn weiterbestehen. (Fs)

59e Bleiben wir nun beim Schuster, nicht aber bei seinen Leisten: Was "tut" denn nun der Schuster eigentlich, wenn er Schuhe herstellt? Und gemeint ist: Was tut er abgesehen von den rein technischen Aspekten seines Tuns? Mögliche Antworten sind: Er verdient sich den Lebensunterhalt; er dient seinen Kunden; er erfüllt seinen Schaffensdrang; usw. Ein "guter" Schuster ist ein solcher, der "gute" Schuhe herstellt. Aber wir können auch sagen: Ein guter Schuster ist ein solcher, der mit seinem Handwerk sich sein Leben verdient, für seine Familie sorgt, seinen Kunden dient. Wir haben hier aber zwei Mal in verschiedenem Sinne vom "guten Schuster" gesprochen. Im zweiten Fall meinte "gut" nicht die Fertigkeit, ein Produkt herzustellen, sondern das Ergebnis der Praxis, zu der dieses Herstellen gehört. Dieses Ergebnis der Praxis nun ist nicht eine Eigenschaft der hergestellten Schuhe, sondern des Schusters. Es ist jenes Ergebnis, das im Handelnden selbst verbleibt, weil es Teil des Lebensvollzugs des Handelnden ist. Praxis nennt man deshalb "immanente" Tätigkeit (operatio immanens), - analog zum Erkennen, dessen Ergebnis ja auch im Erkennenden verbleibt. Auch das "Sehen" verbleibt im Sehsinn; das "Fühlen" in demjenigen der fühlt; usw. (Fs)

60a Beim "Schuhe Herstellen" als Praxis betrachtet geht es nicht um das Gutsein der hergestellten Schuhe, sondern um den guten Vollzug der Handlung "Schuhe-Herstellen". [...]

61b Hier sollte vorerst hervorgehoben werden, dass die Perspektive der Praxis jene ist, in der es um Verwirklichung des Guten im handelnden Subjekt geht. Es geht darum, was die Griechen das "gute Leben" nannten. Das gute Leben ist nicht das befriedigende Leben und auch nicht ein Zustand der Gesellschaft, sondern jener Lebensvollzug handelnder Subjekte, durch den diese - wie es Aristoteles in Anlehnung an das in Piatons Dialog "Protagoras" diskutierte Gedicht des Dichters Simonides ausdrückt - "in Wahrheit gut sind"1, sogar, wenn man dabei das Leben lassen muss. Es geht, platonisch gesprochen, um das "Gut der Seele". Die Griechen kannten für diese spezifische Form des Guten (agathon), das als "in Wahrheit" sittliches, praktisches Gut im Handelnden verbleibt und ihn zu einem guten Menschen macht, den eigenen Ausdruck "to kalon": Das (sittlich) "Schöne". Es ist jenes Zuträgliche oder Nützliche, das sich nicht selbst noch einmal durch seine Zuträglichkeit oder Nützlichkeit für anderes zu rechtfertigen braucht. Sein Nutzen besteht darin, dass es dem Menschen als Menschen schlechthin zuträglich ist, wie z.B. "Gerecht-sein". (Fs)

61c Somit zeigt sich Ethik als eine Lehre vom "guten Leben". Wenn man genau zusieht, so wird deutlich, dass es eigentlich um gar nichts anderes gehen kann. Selbst wenn man jemanden dafür tadelt, dass er sich nicht um seine Mitmenschen kümmert, dass er unsozial oder ungerecht ist, so tadelt man ihn ja gerade, weil man der Meinung ist, dass er aus diesem Grunde eben kein guter Mensch sei. Wenn jemand an meiner Seite verhungert und ich konnte ihm nicht helfen, so wird man das höchstens bedauern, mich aber nicht dafür tadeln. Es ist nicht der Hungertod des anderen, was hier das Üble im sittlichen Sinne ist; sondern es wäre, hätte ich helfen können, meine Unterlassung der Hilfeleistung, die ein sittliches Übel wäre und Tadel verdiente. Eben deshalb tadelt man ja auch nicht die Natur, wenn ein Erdbeben Häuser zum Einstürzen bringt und dabei Menschen sterben. Man tadelt höchstens diejenigen, die aus tadelnswerten Gründen keine einsturzsicheren Häuser bauten oder mit mehr Voraussicht eine rechtzeitige Evakuierung hätten anordnen können. Man betrachtet sie als verantwortungslose Menschen und entdeckt vielleicht, dass sie aus Gewinnsucht, Schlamperei oder schuldhafter Inkompetenz das Nötige versäumt haben. Immer geht es um den handelnden Menschen, darum, zu was er sich selbst als Handelnder macht, und im gleichen Maße darum, wofür er Verantwortung trägt. Hier findet sich Schuld und Verdienst. Und Schuld und Verdienst sind Eigenschaften des handelnden Subjekts, und nicht von Ereignissen. (Fs)

62a Demnach taucht nun die Frage auf, welches denn nun ein gutes Leben sei. Wenn wir nämlich alles, was wir tun, um eines Zieles willen tun - und das ist es ja gerade, was uns zum Begriff des guten Lebens geführt hat - dann stellt sich die Frage, ob denn nicht auch das Leben als Gesamtes ein Ziel habe. Die Frage stellt sich aus zwei Gründen. Erstens, weil wir fragen müssen, ob die Vielfalt der Handlungen und Tätigkeiten, die nun einmal ein menschliches Leben ausmachen, nicht zu einer Einheit zusammengefasst werden müssen, damit das Leben als Gesamtes überhaupt Sinn hat. Und zweitens, weil uns die Frage beschäftigt, ob wir denn alles, was wir erstreben und tun, immer wiederum um eines anderen willen erstreben und tun, oder ob es da vernünftigerweise nicht vielmehr ein Letztes geben muss, das wir um keines anderen willen mehr erstreben, sondern nur um seiner selbst willen. Dies ist eine Frage, die sich aus der Analyse menschlichen Handelns und der Natur der praktischen Vernunft mit Notwendigkeit ergibt. (Fs) (notabene)

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