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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Nikomachische Ethik (Anfang), Aristoteles; Ethik der "Ersten (Dritten) Person"; Perspektive des Handelns; Kant, Utilitarismus, Diskursethik; das Gute als "gut Scheinendes"; "Schein des Guten"

Kurzinhalt: ... die gesamte Tradition der neuzeitlichen Ethik, vor allem ihre Hauptgestalten der Kantischen Pflichtethik und des Utilitarismus, sind Ethiken der "Dritten Person

Textausschnitt: 49a Wie bereits angeführt, beginnt die Nikomachische Ethik des Aristoteles mit der simplen Feststellung eines Faktums der Erfahrung: "Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen jede Handlung und jeder Entschluss scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt." "Gut" ist also, wonach man "strebt". Der Begriff des Guten ist gegeben durch die Erfahrung, dass wir in allem, was wir tun - Kunst, Lehre, Handlung, Entschluss - auf etwas aus sind. Dieses "worauf wir aus sind" nennen wir ein Gut. Und der Begriff des Guten ist demnach identisch mit dem Begriff "Ziel eines Strebens". Güter, und gemeint sind hier praktische Güter, sind Strebeziele. Und was auch immer wir tun, wir erstreben ein Gut, wir zielen auf etwas ab1. (Fs) (notabene)

49b Zum Begriff "praktisches Gut": Ein Auto oder ein Computer als solche sind "Dinge". Und als Dinge sind sie in mancher Hinsicht "gut". Jedoch nur insofern sich das Streben in praktischer Weise auf diese Gegenstände erstreckt (Erwerben-wollen, Stehlen-wollen), werden Auto und Computer zum praktischen Gut. Diese Art von Gutsein gründet nicht im Ding-sein dieser Gegenstände, sondern in ihrer Relation mit einem Wollen. Das praktische Gut ist hier nicht mehr das Auto oder der Computer als solche, sondern vielmehr deren Besitzen. Nicht ein "Auto" ist also ein praktisches Gut, sondern das "Besitzen eines Autos". Und die entsprechenden Handlungen, die sich in der Perspektive solcher praktischer Güter formieren können, sind etwa "ein Auto kaufen" oder "ein Auto stehlen". Analoges gilt für Personen: auch sie sind praktische Güter insofern sie Gegenstände von Strebeakten und Handlungen sind (wie z.B. Gegenstände von Wohlwollen, Liebe, Achtung, von Vertragsschließungen oder, aber auch von Handlungen wie "jemanden um eine Auskunft bitten", "jemanden bestechen", "jemanden für seine Zwecke benutzen", usw.). Im Unterschied zu Dingen haben jedoch Personen, wie Kant es ausgedrückt hat, "Würde", was bedeutet, dass der Bezug auf sie als ein praktisches Gut nie auf Kosten der Tatsache gehen darf, dass sie auch unabhängig von diesem Bezug ein "Gut" sind, was nichts anderes heißt, als dass sie im Kontext des Handelns nie bloßes Mittel sein dürfen. (Fs)

50a Damit finden wir uns mitten in der Perspektive des Handelns. Es ist egal, dass hier auch von Kunst die Rede ist. Denn Kunst ist hier als Praxis beschrieben. Auch mit Kunsthandeln (Technik: Herstellungshandeln im weitesten Sinne) ist man "auf etwas aus". Und dieses "auf etwas aus sein" nennen wir Intentionalität (von "intendere" = "hinneigen auf, "hinzielen auf). (Fs)

50b Bereits der erste Satz der Aristotelischen Ethik stellt uns also in eine ganz spezifische Perspektive. Wir können sie die Perspektive der Praxis nennen. Im Folgenden werden wir diese Perspektive nicht mehr verlassen. Es ist die Perspektive der "Ersten Person", des Handlungssubjekts. Es ist notwendig, eindringlich darauf hinzuweisen, denn die gesamte Tradition der neuzeitlichen Ethik, vor allem ihre Hauptgestalten der Kantischen Pflichtethik und des Utilitarismus, sind Ethiken der "Dritten Person"2. So eigenartig dies zunächst klingen mag: sie sind Ethiken der absoluten Objektivität. So schreibt Kant: "Praktisch gut ist, was vermittelst der Vorstellungen der Vernunft, mithin nicht aus subjektiven Ursachen, sondern objektiv, d.i. aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen, als ein solches, gültig sind, den Willen bestimmt"3. Der Ausgangspunkt der Kantischen Ethik ist gerade, die Perspektive des "interessierten" Handlungssubjekts zugunsten von "uninteressierten" Vernunftimperativen auszuklammern. Nur was universal gilt, gilt überhaupt in moralischer Hinsicht. Nur eine Handlungsmaxime, die auch als allgemeines Gesetz gewollt werden kann, ist moralisch, nicht jedoch, was den Neigungen oder Strebungen des Subjekts entspricht. Die Pflicht ist der Imperativ der Vernunft, der sich gegen das neigungsbedingte Gute durchsetzt. Die Kantisch inspirierte Diskursethik, die wiederum nur intersubjektives, auf Konsens abzielendes kommunikatives Handeln als moralerzeugende Instanz anerkennt, konzediert normative Geltung nur solchen Geltungsansprüchen, die zwanglos von allen Betroffenen akzeptiert werden können, will also das bloß subjektive Interesse der Objektivität des argumentativ erzielten Konsenses unterordnen (was zwar als politische Ethik verstanden mit gewissen Einschränkungen durchaus Sinn macht). Auch der Utilitarismus, in all seinen Spielarten, ist eine Ethik der Objektivität, in diesem Fall der Objektivität von Nutzen-, Folge- oder Güterkalkülen (Güterabwägung). Diese Ethik betrachtet den handelnden Menschen gleichsam von außen, als uninteressierten Produzenten möglichst optimaler Welt-Zustände; sie betrachtet ihn -gemäß dem Ausdruck des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel - aus einer "Sicht von Nirgendwo"4. Auch wenn es mir - etwa aufgrund "anerzogener" moralischer Grundsätze und entsprechender Überzeugungen und Gefühle - noch so sehr widerstrebt, einen Menschen zu töten, so wäre ich nach utilitaristischen Maßstäben verpflichtet, es dennoch zu tun, wenn ich dadurch zehn anderen das Leben retten kann, sofern dadurch meiner Voraussicht nach die Folgebilanz, der Zustand der Welt optimiert würde5. (Fs) (notabene)

51a Ethik entspringt jedoch, wie gesagt, einer Reflexion auf praktische Erfahrung, die Erfahrung von Handlungssubjekten ist. Sie darf diese Perspektive des Handelns nicht verlassen, will sie das Phänomen "menschliche (sittliche) Handlung" nicht verfälschen. Wenn wir in dieser Perspektive der Praxis von "Gütern" und "Zielen" sprechen, so meinen wir immer Korrelate eines Strebens, und wir betrachten menschliches Tun als "Erstreben eines Gutes". Das ist, was immer der Fall ist, wenn wir etwas tun. (Fs)

51b Das Gute ist demnach, wie wir ebenfalls von Aristoteles lernen, immer etwas einem handelnden Subjekt "gut Scheinendes". Mit "Schein des Guten" ist hier nicht Täuschung gemeint, sondern das Gute, insofern es sich in der Beurteilung durch das handelnde Subjekt als ein solches zeigt. Gut - in der Perspektive der Praxis - ist ja gerade, was wir als gut beurteilen und uns entsprechend auch als gut erscheint. (Fs)

51c Dass hier das "Urteil über das Gute" zu einem "Scheinen des Guten" führt liegt darin, dass Handlungsurteile Urteile über Strebungen sind. Es handelt sich um affektiv bedingte Urteile und Urteile über Affekte und Strebungen. Deshalb ist es auch, wie Aristoteles bemerkt, "für das Handeln von der größten Wichtigkeit, ob man in der rechten oder in der verkehrten Weise Lust und Unlust empfindet"1. Nicht weil wir immer aus "Lust" handeln, sondern weil sie jenen Affekt bezeichnet, der die Vernunft am allermeisten zu desorientieren vermag, sie aber auch gleichzeitig, verläuft sie "in der rechten Weise", die mächtigste Unterstützung der Vernunft ist2. (Fs)

51d Die entscheidende Frage der Praxis besteht nun darin zu klären, welches die Bedingungen dafür sind, dass dieser "Schein", bzw. dieses Urteil auch die Wahrheit trifft, dass das "gut Scheinende" auch das "in Wahrheit Gute" ist. Das ist nur dann der Fall, wenn das Streben selbst (Affekte und Wollen) das in Wahrheit Gute trifft. Genau so verhält es sich beim tugendhaften Menschen. "Der Tugendhafte nämlich urteilt über alles und jedes richtig und findet in allem und jedem das wahrhaft Gute heraus"3. (Fs)

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