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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Humanae vitae; locus classicus: naturalistische Perspektive; Tugend der Keuschheit

Kurzinhalt: Vielmehr ist die Frage zu stellen: "Was ist falsch an einer Wahrnehmung prokreativer Verantwortung, durch die die Modifizierung des eigenen Sexualverhaltens überflüssig, ja geradezu sinnlos wird?"

Textausschnitt: 95b Es scheint nicht übertrieben zu sagen, daß das soeben Ausgeführte in allen Punkten durch dieses Kriterium bestätigt und geradezu zusammengefaßt wird. Wir können jetzt auch eine oft, wie bereits angedeutet, nur unvollständig oder gänzlich übersehene Passage aus "Humanae vitae", den letzten Abschnitt von Nr. 16, adäquat einordnen. Dort heißt es (gemäß dem Wortlaut der offiziellen deutschen Übersetzung), periodische Enthaltung und Empfängnisverhütung seien zwei grundlegend verschiedene Verhaltensweisen1. Die deutsche Übersetzung trifft hier den Nagel auf den Kopf. Nun scheint jedoch bei erstem Hinsehen die Begründung dieser Aussage ziemlich enttäuschend und simpel zu sein (und als solche wird sie dann auch zumeist zitiert): "Bei der ersten machen die Eheleute von einer naturgegebenen Möglichkeit rechtmäßig Gebrauch; bei der anderen dagegen hindern sie den Zeugungsvorgang bei seinem natürlichen Ablauf."

96a Diese Worte sind zum locus classicus für den Beweis der "naturalistischen" Perspektive von "Humanae vitae" geworden. Es scheint tatsächlich, daß der hier angegebene Grund für die Verkehrtheit der Empfängnisverhütung einfach ihr unnatürlicher Charakter ist, ihr Mangel an Respektierung natürlicherweise vorgegebener Strukturen. Nun ist aber der zitierte Satz, gemäß dem Wortlaut der Enzyklika, keineswegs bereits als ein sittliches Urteil gemeint, sondern lediglich als eine Beschreibung der zwei verschiedenen Verhaltensweisen, über die nun ein sittliches Urteil erst gefällt werden muß. Der Text läuft ja weiter, und die Begründung eines entsprechenden sittlichen Urteils (und damit die Angabe des entscheidenden intentionalen Gehaltes der beschriebenen Verhaltensweisen) folgt erst in den beiden nächsten Sätzen (die nun aber kaum je zitiert werden): Der Grund dafür, daß die Beschränkung des Sexualverkehrs auf unfruchtbare Perioden eine gänzlich andere Verhaltensweise ist, besteht gemäß der Enzyklika darin, daß in diesem Fall, und nur in diesem Fall, die Eheleute während fruchtbarer Perioden Akte der Enthaltung vom Sexualverkehr vollziehen. Der ganze Text sei nachfolgend im Zusammenhang zitiert (die Hervorhebungen finden sich nicht im Original):

Tatsächlich handelt es sich um zwei ganz verschiedene Verhaltensweisen. Bei der ersten machen die Eheleute von einer naturgegebenen Möglichkeit rechtmäßig Gebrauch; bei der anderen dagegen hindern sie den Zeugungsvorgang bei seinem natürlichen Ablauf. Zweifellos sind in beiden Fällen die Gatten sich einig, daß sie aus guten Gründen Kinder vermeiden wollen, und dabei möchten sie auch sicher sein. Jedoch ist zu bemerken, daß nur im ersten Fall die Gatten sich in fruchtbaren Zeiten des ehelichen Verkehrs enthalten können, wenn aus berechtigten Gründen keine weiteren Kinder mehr wünschenswert sind. In den empfängnisfreien Zeiten aber vollziehen sie dann den ehelichen Verkehr zur Bezeugung der gegenseitigen Liebe und zur Wahrung der versprochenen Treue. Wenn die Eheleute sich so verhalten, geben sie wirklich ein Zeugnis der rechten Liebe. (Fs)

97a Die sittlich relevante Verschiedenheit der Verhaltensweisen beruht demnach - diesem Text gemäß - nicht darin, daß die Zeitwahl im Unterschied zur Kontrazeption mit den naturgegebenen biologischen Rhythmen in Übereinstimmung steht (obwohl die Verhaltensweise äußerlich dadurch beschrieben werden kann). Die moralisch relevante Verschiedenheit und damit dann auch das sittliche Urteil über den Unterschied zwischen einer die natürlichen Rhythmen berücksichtigenden Zeitwahl und Kontrazeption ergibt sich erst aus der Tatsache, "daß nur im ersten Fall die Gatten sich in fruchtbaren Zeiten des ehelichen Verkehrs enthalten können" ("se ... abstinere valeant"). Diese Notwendigkeit und die entsprechende Bereitschaft, sich aus Gründen der Verantwortung zu bestimmten Zeiten des Sexualverkehrs zu enthalten, impliziert nun eben die Wahl, das eigene Sexualverhalten gemäß den Erfordernissen von Verantwortung zu modifizieren; sie bezieht sich auf eine grundlegende und hier gerade entscheidende Disposition. (Fs)

97b Somit scheint also "Humanae vitae" anzunehmen: Um zu entdecken, was an Empfängnisverhütung ("den Zeugungsvorgang bei seinem natürlichen Ablauf hindern") falsch ist, darf man sich nicht auf Fragen der Art fixieren: "Was ist falsch daran, den Zeugungsvorgang bei seinem natürlichen Ablauf zu hindern?" Vielmehr ist die Frage zu stellen: "Was ist falsch an einer Wahrnehmung prokreativer Verantwortung, durch die die Modifizierung des eigenen Sexualverhaltens überflüssig, ja geradezu sinnlos wird?" Oder anders gesagt: "Was ist falsch an einer mit dem Ziel der Vermeidung einer Schwangerschaft getroffenen Wahl, die gleichzeitig die Wahl, das eigene leibliche Verhalten zu modifizieren, ausschließt?" Denn genau das ist ja der springende Punkt der Empfängnisverhütung. Erst im Lichte solcher Fragen zeigt sich der Versuch, durch die Verhinderung einer Empfängnis naturgegebene Prozesse an ihrem natürlichen Ablauf zu hindern, als ein ethisches Problem. Solange nicht gesehen wird, daß Empfängnisverhütung tugendgemäßer, der leib-geistigen Konstitution menschlicher Personalität entsprechender Wahrnehmung prokreativer Verantwortung widerspricht, wird man nie in der Lage sein, zu begründen, weshalb denn der Akt einer Verhütung von Empfängnis in sich sittlich verkehrt ist1. (Fs) (notabene)

98a Diese prinzipielle sittliche Verkehrtheit besteht also in der Herauslösung des Leibes und seiner prokreativen Akte aus dem Kontext der Verantwortung, indem man ihn einfach als ein "zu regulierendes Objekt" behandelt, anstatt ihn in die Struktur menschlicher Handlung als Teil des "regulierenden Handlungsssubjekts" zu integrieren und ihn damit zum Prinzip menschlicher Handlungen werden zu lassen. Damit wird - durch eine ganz bestimmte Art von Verhalten und in einzelnen konkreten Akten - die innerste Wahrheit der menschlichen Person als Wesenseinheit von Leib und Geist, von Natur und Freiheit, sowie die leib-geistige Einheit ehelicher Liebe in ihrer Integrität angegriffen: Kontrazeptiver Sexualverkehr ist, als intentionale Handlung betrachtet, schlicht ein anderer Typ von Sexualakt als Sexualverkehr im Kontext periodischer Enthaltung. (Fs)

98b Wie ich gezeigt habe, ist dieser Versuch, die Sexualität aus dem Kontext prokreativer Verantwortung herauszulösen, gleichbedeutend mit einer gegen die Tugend der Keuschheit gerichteten Handlungsweise; Keuschheit impliziert ja eine der Tugend gemäße Beherrschung des Triebes. Dies ist, wie mir scheint, tatsächlich die eigentlich grundlegende Perspektive der Lehre von "Humanae vitae"; sie ist bereits in Nr. 2 angekündigt und wird schließlich in Nr. 21 ausdrücklich bestätigt: [...]

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