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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Kontrazeptives Sexualverhalten - periodische Enthaltsamheit

Kurzinhalt: Sowohl der Vollzug von Sexualverkehr als auch der Vollzug eines Aktes der Enthaltung (der Akt des willentlichen Verzichtens auf Sexualverkehr) sind beides Akte des sexuellen Verhaltens

Textausschnitt: 83a Erst dieser dritte Schritt enthält nun das eigentliche Argument gegen Empfängnisverhütung. Um die sittliche Verkehrtheit der früher (in 1,4) beschriebenen kontrazeptiven Wahl aufzuweisen, müssen wir allerdings mit der Behandlung der periodischen Enthaltsamkeit beginnen. Das ist, wie mir scheint, ein notwendiges methodologisches Erfordernis. In sich selbst sind ja "Fehler" oder Übel jeglicher Art gar nicht als solche einsichtig, denn sie besitzen einen privativen Charakter: Sie sind Mangel eines Guten. Um den Mangel zu entdecken, müssen wir zuerst das Gute kennen, in dessen Mangel das Übel besteht. Sittliche Verfehlungen, Übel oder Laster sind nur im Licht des Guten erkennbar, dem sie jeweils entgegengesetzt sind1. So müssen wir zunächst untersuchen, was Eheleute eigentlich tun (und entsprechend wählen), wenn sie aus Gründen der Verantwortung periodische Enthaltsamkeit praktizieren. (Fs)

a) Periodische Enthaltsamkeit

83b Eheleute wählen die Praktizierung periodischer Enthaltung, um eine Empfängnis zu vermeiden; dies führt sie dazu, zu bestimmten Zeiten vom Sexualverkehr abzulassen. Sie wissen, daß in ganz bestimmten Perioden ein sexueller Verkehr wahrscheinlich zu einer Empfängnis führen könnte, in anderen Perioden jedoch nicht. Sie sind fähig (oft mit Hilfe einer angemessenen "Methode") zu unterscheiden, wann das eine oder das andere der Fall ist. Ebenfalls aber wissen sie, daß der Vollzug des ehelichen Aktes vollkommen in Ordnung ist, auch wenn er nur dazu dienen kann, gegenseitige Liebe auszudrücken, und obwohl er, aus dem oben genannten Grund, gerade nur deshalb überhaupt vollzogen wird, weil man um seine Unfruchtbarkeit weiß. Solche Eheleute werden sich deshalb von Sexualverkehr während wissentlich fruchtbaren Zeiten enthalten und sie werden nur dann Verkehr haben, wenn sie um die voraussichtliche Unfruchtbarkeit eines solchen Aktes wissen. (Fs)

84a Man beachte: Die "Methode" - sofern überhaupt eine solche verwendet wird - dient in sich selbst betrachtet überhaupt nicht dazu, eine Empfängnis zu vermeiden; ebensowenig vermag sie eine Empfängnis zu verhüten. Die "Methode" liefert einzig und allein gewisse Kenntnisse über die Fruchtbarkeitsrhythmen. Was die Empfängnis reguliert, ist der Akt der Enthaltung von wissentlich fruchtbaren Sexualakten. Sogenannte "natürliche Methoden" regulieren unabhängig von Akten der Enthaltung überhaupt nichts. Deshalb ist es völlig irreführend in vergleichender Absicht über "natürliche Methoden" und "künstliche (kontrazeptive) Methoden" zu sprechen. Beides sind zwar "Methoden", aber mit völlig verschiedener Zielsetzung, verschiedener Funktion und verschiedenem Ergebnis. Im Falle "natürlicher Methoden" ist die "Methode" selbst gar nicht wesentlich; sie kann auch fehlen. Denn sie ist einzig und allein ein Hilfsinstrument dafür, periodische Enthaltung mit einem höheren Grad an Sicherheit durchzuführen. Weder handelt es sich hier um eine (natürliche) "Methode", um eine Empfängnis zu vermeiden, noch - und dies viel weniger - um eine (natürliche) Methode der Empfängnisverhütung. Im Falle der Kontrazeption jedoch ist, wie wir noch eingehend sehen werden, die "Methode" gerade das Ganze: Sie hat hier die Aufgabe, in ausreichender Weise die Empfängnis zu regulieren, indem sie sexuelle Akte überhaupt unfruchtbar macht. (Fs)

85a Es ist nun von äußerster Wichtigkeit hervorzuheben, daß in der eben vorgelegten Beschreibung von periodischer Enthaltsamkeit nicht nur ein, sondern zwei verschiedene, wenn auch engstens aufeinander bezogene Akte des Sexualverhaltens eingeschlossen sind: Sowohl der Vollzug von Sexualverkehr als auch der Vollzug eines Aktes der Enthaltung (der Akt des willentlichen Verzichtens auf Sexualverkehr) sind beides Akte des sexuellen Verhaltens. Zudem ist der Akt des Unterlassens von Sexualverkehr ein Akt, dem eine gemeinsame Entscheidung der Eheleute zugrundeliegt: Beide sind ja hier daran beteiligt, auf den Vollzug einer Handlung zu verzichten, die voraussichtlich eine Empfängnis, die zu vermeiden sie gerade verpflichtet sind, bewirken würde. Sie verwirklichen die Intention, dies zu vermeiden, indem sie jenen Handlungsvollzug unterlassen, der voraussichtlich zu einer Empfängnis führen würde. Dieser Akt des Vermeidens durch willentliches "unterlassen von" und "verzichten auf" ist ein leiblicher Akt prokreativer Verantwortung. Er ist nicht einfach ein simples "etwas nicht tun", etwas rein "Negatives" im Sinne der bloßen "Nichtausführung einer Handlung", sondern eine spezifische Art willentlicher, gewählter leiblicher Handlung, d.h. ein dem vernunftgeleiteten Willen entspringender Akt des Sexualverhaltens. (Fs)

85b Überdies ist dieser Akt der Enthaltung von Sexualverkehr ein ehelicher Akt. In ihm finden sich die beiden Sinngehalte ehelicher Sexualität und Liebe gegenwärtig. Er ist ein Akt mit einem prokreativen Sinngehalt, denn er wird vollzogen aus Gründen prokreativer Verantwortung. Er ist - aufgrund seines intentionalen Gehaltes und deshalb objektiv - in der Tat ein leiblicher Akt prokreativer Verantwortung. Indem Eheleute auf einen voraussichtlich oder möglicherweise fruchtbaren Sexualverkehr verzichten, verhalten sie sich zu ihren sexuellen Akten, zu sich selbst und ein jeder zum anderen als zu einer möglichen Ursache neuen Lebens. Die Respektierung ihrer sexuellen Akte als einer solchen Ursache - und vorausgesetzt, sie wissen sich verpflichtet, kein weiteres Kind zu bekommen - ist genau der Grund, weshalb sie sich hier und jetzt des Sexualverkehrs enthalten. Indem sie ein solches Verhalten wählen, handeln die Ehegatten zudem als zwei Personen, die "in einem Fleisch vereint" sind: Ihr leibliches Verhalten, das prokreativ verantwortlicher Enthaltung entspringt, besitzt im eigentlichen Sinn einen ehelichen und sogar einen elterlichen Sinngehalt. Solche Enthaltungsakte sind Akte zweier sich liebender Personen, die in Akten Vernunft- oder geistdurchformter Leiblichkeit darauf aus sind, in verantwortlicher Weise den Anforderungen ihrer ehelichen und elterlichen Berufung zu entsprechen. In einem anderen Sinn als Sexualverkehr selbst sind Akte der verantwortlichen Enthaltung von ihm ein wahrer Ausdruck sowohl des prokreativen wie auch des unitiven Sinngehaltes der Sexualität in ihrer untrennbaren Verknüpfung. (Fs) (notabene)

86a Die Probleme, Lasten und Schwierigkeiten, die möglicherweise mit einer Praktizierung periodischer Enthaltsamkeit einhergehen und auf die deren Kritiker oft anspielen, müssen als jene Lasten und Schwierigkeiten angesehen werden, die nun einmal in der anforderungsreichen Aufgabe ehelichen Lebens und ihrer Erfüllung involviert sind, und nicht - wie es Kritiker normalerweise tun - als etwas, was für eheliche Liebe ein Hindernis oder Erschwernis ist. Diese Lasten und Schwierigkeiten können gerade aufgrund der Tatsache gemeistert werden, daß Enthaltung eben selbst ein Akt ehelicher Liebe ist. Die wahre Natur verantwortlicher Enthaltung schließt in sich gerade das Prinzip ein, durch welches diese Schwierigkeiten gemeistert werden können. Und dieses Prinzip heißt "eheliche Liebe", die sich gerade immer wieder im Verzichten aus Liebe und Verantwortung vertiefen muß. (Fs)

[...]

88a Die wesentliche Aussage besteht also darin, daß solche Eheleute diese prokreative Verantwortung in der Totalität leib-geistiger Liebe leben, indem sie ihr leibliches Verhalten - ihr Sexualverhalten - aus Gründen der Verantwortung modifizieren. Somit wird Sexualität, einschließlich ihrer prokreativen Dimension, voll in prokreativ verantwortliches Verhalten, in das Leben des Geistes integriert. Diese operative Integration ist nichts anderes als die oben beschriebene Tugend der Keuschheit (s. 11,2). (Fs)

88b Es scheint damit, daß Keuschheit an die Bedingung eines Sexualverkehrs gebunden ist, dessen prokreative Folgen niemals durch absichtliche Eingriffe verhindert werden. Genau das ist es, so scheint mir, was "Humanae vitae" als Vorbedingung intentionaler Art für das "per se"-Hingeordnetsein eines jeden ehelichen Aktes auf die Erzeugung neuen menschlichen Lebens festhalten möchte. Aber man beachte: Dies ist nur eine Bedingung für Keuschheit und nicht ihr Wesen. Als eine solche Bedingung wurde dies aufgewiesen durch das Vorbringen eines weiteren Argumentes, das überhaupt erst zeigt, daß es sich hier um eine Bedingung handelt. Die Respektierung der natürlichen Fruchtbarkeitsrhythmen ist weder Norm noch Begründung einer Norm, sondern sie wird - wie J. Boyle richtig gegenüber J.T. Noonan argumentiert - als moralisches Erfordernis erst sichtbar im Licht der sittlichen Norm, die selbst aber nicht schon aus der Natürlichkeit der Fruchtbarkeitsrhythmen abgeleitet werden kann1. (Fs)

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