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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Unterschied: moderne (McIntyre) - klassische Tugendethik

Kurzinhalt: Der springende Punkt ist nun gerade, dass ... Tugend" nicht in einer Disposition, affektiven Verfassung oder Neigung besteht, "das jeweils Richtige zu tun", sondern darin, das Richtige aus affektiver Neigung zu tun, d. h...

Textausschnitt: 23b Die gegenwärtige, vor allem im angelsächsischen Raum vertretene Tugendethik kritisiert berechtigtweise einige Schwachpunkte neuzeitlicher "Moralphilosophie" und akzentuiert dabei wesentliche Anliegen klassischer Tugendethik. Die Unterschiede bleiben jedoch beträchtlich. Gegenwärtige Tugendethik ist oft einseitig und eine Extremposition und wird deshalb auch nicht selten kurzerhand als Schuss ins Leere kritisiert, da letztlich auch Tugenden nur aufgrund der Richtigkeit von Handlungen definiert werden können1. Freilich schließen das auch heutige Vertreter der Tugendethik nicht unbedingt aus. Einige anerkennen explizit, dass die Richtigkeit von Handlungen von tugendgemäßen Dispositionen unterscheidbar und nicht ausschließlich von letzteren ableitbar ist2. Dennoch scheinen diese beiden Aspekte in der heutigen Tugendethik nicht immer in zufriedenstellender Weise integriert zu sein. (Fs)

24a Klassische Tugendethik ist jedenfalls weder nicht-kognitivistisch (sie behauptet also nicht, dass die Richtigkeit einer Handlungsweise einfach positiv zu bewertenden Motivationen entspringt und versteht "Tugend" als durchaus vernunftbezogenen Begriff3), noch kennt sie einen Gegensatz von Tugend und Pflicht. Tugend im klassischen Sinn versucht auch nicht einfach unsere gegebenen moralischen Intuitionen zu rechtfertigen und ist auch nicht in "neoaristotelischer" Weise an das jeweilige vorherrschende Ethos zurückgebunden. Als rationale Kategorie will Tugend auch unsere gegebenen und durch Erziehung, Gewohnheit, Ethos mitgeformten moralischen Intuitionen und Motivationen aufklären und sie gegebenenfalls verbessern. Anderseits reduziert klassische Tugendethik jedoch die Tugenden auch nicht, wie dies die neuzeitliche Moralphilosophie tut, auf bloß habituelle Aneignung von Prinzipien, Normen und Regeln, sondern ist ausgesprochene Glückslehre: sie versteht das Gute, Richtige, Gesollte immer im Hinblick auf das dem Erreichen wahren - wenn auch u. U. durchaus unvollkommenen - Glücks Zuträgliche. Klassische Tugendethik in aristotelischer Tradition versteht Tugend als jene emotionale bzw. affektive Verfasstheit des Subjekts, die (1) auf rational erkennbaren Prinzipien gründet und durch die (2) das Richtige, die Pflicht, das Sollen dann im Einzelfall erst adäquat erkennbar wird, weil sittliche Tugend die Affektivität vernunftgemäß disponiert und damit Vernünftigkeit im partikularen Handeln ermöglicht und sichert. (Fs)

24b Gerade dieser zweite Punkt ist das entscheidende Charakteristikum einer jeden echten Tugendethik. Gemäß einem gängigen, den Begriff der Tugend zur Trivialität herab stufenden Missverständnis, sind Tugenden einfach positiv zu bewertende Charaktereigenschaften4 oder, wie bereits erwähnt, Dispositionen der Erfüllung moralischer Regeln oder Normen, wichtig vor allem für Kinder, die noch nicht über die rationale Kompetenz des Verstehens moralischer Regeln und des differenzierten Umgangs mit ihnen verfügen5. Der springende Punkt ist nun gerade, dass einem nicht-trivialen Begriff der sittlichen Tugend gemäß "Tugend" nicht in einer Disposition, affektiven Verfassung oder Neigung besteht, "das jeweils Richtige zu tun", sondern darin, das Richtige aus affektiver Neigung zu tun, d. h. auf Grund der affektiven Verfassung oder Neigung jeweils das Richtige zu treffen. Wäre Tugend nur im trivialen Sinne zu verstehen als Disposition, das jeweils Richtige zu tun, so bedeutete dies ja, dass Tugend selbst gar keine Grundlage für die Bestimmung dieses "Richtigen" sein kann, da das jeweils der Tugend Gemäße vom "Richtigen" her bestimmt würde. Gemeint ist aber gerade das Umgekehrte: die tugendhafte Disposition ermöglicht es überhaupt erst, das im Konkreten Richtige zu erkennen und auch effektiv zu tun, weil Tugend praktische Vernunft affektiv leitet und sichert. Sittliche Tugend ist nicht einfach nur die affektive Verfassung oder Neigung, das jeweils Richtige (die "Pflicht") zu tun, sondern eine Neigung oder affektive Verfassung, durch die das hier und jetzt Richtige überhaupt erst adäquat als "Gutes" erfasst und im konkreten Tun auch effektiv getroffen wird (davon gibt es dann natürlich keine Theorie bzw. universale normative Aussagen). Sittliche Tugend ist Potenzierung von Vernünftigkeit bezüglich des konkreten Handelns. (Fs) (notabene)
25a Wird Tugend in dieser Weise verstanden, dann scheint es fehl am Platz zu sein, von möglichen Konflikten zwischen einzelnen Tugenden als Kollisionen zwischen verschiedenen moralischen Verbindlichkeiten zu sprechen und, da solches in der Aristotelischen Tugendethik nicht angemessen berücksicht sei, eine "für Tugendkonflikte zuständige Urteilskraft" als "Metatugend" zu fordern6. Dies geht am klassisch-aristotelischen Verständnis sittlicher Tugend gerade vorbei, weil diese erstens dem Begriffe nach bereits die adäquate Erkenntnis des im Partikularen zu Tuenden einschließt und zweitens behauptet, "einzelne Tugenden", die möglicherweise miteinander in Konflikt geraten, könne es so gar nicht geben, da im eigentlich Tugendhaften alle Tugenden eine organische Einheit bilden, was dem Tugendhaften gerade ermöglicht, das im Konkreten Richtige zu erfassen. "Die wirkliche Tugend hat sozusagen den Konflikt bereits gelöst, bevor er die reale Entscheidung lähmen könnte."7 (Fs)

25b Nun bedeutet das keineswegs, was im Einzelnen das Richtige sei, könne nicht rational gerechtfertigt werden, hänge nicht auch von vernünftig einsehbaren normativen Voraussetzungen ab und könne vor dem Gewissen des Handelnden nicht als "Pflicht" auftreten. Auch das Handlungsurteil des Tugendhaften ist immer ein Urteil der Vernunft, näherhin der Klugheit. Die affektiv geleitete praktische Erkenntnis des Tugendhaften ist jedoch ein vorzüglicher Modus praktischer Erkenntnis, der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass er (1) das flexible Eingehen auf die konkrete Situation ermöglicht, und zwar gerade als ein Treffen des dem jeweiligen Tugendziel entsprechenden moralisch Richtige (2) nicht nur Erkenntnis verschafft, sondern (im Unterschied zu dem von Aristoteles ausführlich analysierten "akratos", dem Unenthaltsamen oder "Willensschwachen") auch zum effektiven Tun des erkannten Guten führt und (3) (diesmal im Unterschied zum bloß Enthaltsamen, der gegen seine Neigung das als Pflicht Erkannte erfüllt) Motivation und Handlungsgründe zur vollen, auch subjektiv befriedigenden Übereinstimmung bringt8. Auch das affektiv geleitete praktische Urteil des Tugendhaften bleibt jedoch ein Urteil der Vernunft, ja ist noch mehr ein solches, als das praktische Urteil des affektiv Fehlgeleiteten, da dieses letztere nicht einer durch wohlgeordnete Affekte potenzierten Vernunft entspringt, sondern einer solchen, die sich bloß im Schlepptau von ihrer eigenen Logik überlassenen Affekten oder Emotionen befindet und deshalb weniger "Vernunft" ist, als die Vernunft des Tugendhaften9. Sittliche Tugend definiert und sichert damit gerade auch die Bedingungen dafür, dass das Glücksstreben sich in den Bahnen von Vernünftigkeit vollzieht, dass wir als Letztes und um seiner selbst willen erstrebtes Gut darauf aus sind, was auch vernünftigerweise als ein solches Letztes und Höchstes gewollt werden kann. Klassische Tugendethik, wie sie hier verstanden wird, ist rationale Tugendethik. (Fs)

25c Da eine solche Tugendethik die Richtigkeit von Handlungen nicht einseitig als Derivat von positiv zu bewertenden emotionalen Einstellungen und Motiven versteht, letztere an Kriterien von Vernünftigkeit zurückbindet und einen Diskurs über moralische Regeln und Normen zulässt, also an einem der Teleologie der Wünsche, Neigungen und Strebungen des Subjekts vorgeordneten normativen Begriff des "Guten" festhält, wurde behauptet, "dass weder Aristoteles noch Thomas eine ,reine Tugendethik' vertreten"10. Eine solche Behauptung ist nun aber ein Missverständnis und nur sinnvoll, wenn man von einem bereits "radikalen" Begriff von Tugendethik ausgeht. Auch eine rationale Tugendethik, wie die hier vertretene, ist durchaus eine "reine" Tugendethik, allerdings ohne die Einseitigkeiten jener radikalen Formen von Tugendethik, wie sie zuweilen anzutreffen sind. (Fs)

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