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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Perspektive der Moral; the moral point of view; keine Dochotomie: Für-mich-in-Wahrheit-Gutes, "Für-die-anderen-Gutes

Kurzinhalt: Die wahre, der Perspektive der Moral eigene Dichotomie ist deshalb jene zwischen bloßem subjektiven Schein des Guten und der Wahrheit dieses "Scheinens des Guten" vor der praktischen Vernunft.

Textausschnitt: Die "Perspektive der Moral"

15a Die "Perspektive der Moral", wie sie hier verstanden wird, ist nicht identisch mit dem, was im angelsächsischen Raum geläufigerweise the moral point of view genannt wird1. Dieser "moralische Standpunkt" wäre derjenige, der, jeweils das Verfolgen des Eigeninteresses einschränkend, die Interessen der anderen bzw. der Allgemeinheit geltend macht. Gegenüber dem seine eigenen, nur persönlichen Interessen verfolgenden Subjekt verträte dann die Moral den Standpunkt des Allgemeinen, für alle Gültigen und die Interessen aller Betroffenen Berücksichtigenden sowie der Unparteilichkeit. (Fs)
15b Nun soll hier keineswegs behauptet werden die Perspektive der Moral sei nicht diejenige eines das pure Eigeninteresse korrigierenden "allgemeinen" oder "höheren" Standpunktes. Insofern ist der moral point of view in der Tat der Standpunkt der Moral. Zu bestreiten ist lediglich der behauptete Gegensatz zwischen "persönlichem Interesse" und "Moral", bzw. ein Begriff des Moralischen als Einschränkung dessen, was in unserem persönlichen Interesse liegt2. (Fs)

15c Die "Perspektive der Moral", so wie sie hier verstanden werden soll, ist der Standpunkt des Menschen als leib-geistige Einheit und handelndes Subjekt, ausgestattet mit Trieben, Affekten und Emotionen, instinktschwach aber gleichzeitig befähigt, aus seiner eigenen Zentralität sich durch Intellekt und Wille auf andere hin zu transzendieren, frei, und zugleich stets der Verfehlung seiner Freiheit ausgesetzt, zwar Herr seines Tuns aber doch auch immer gefährdet, Sklave dieses Tuns und seiner oft ungeklärten Antriebe zu werden; und aus dieser Perspektive dann der Standpunkt des handelnden Subjekts, der in seinem Streben, Wollen und Tun das "für ihn Gute" sucht und dabei schließlich auf ein Letztes aus ist, das um seiner selbst willen gesucht wird und alles Streben zu erfüllen vermag, eine Erfüllung, die wir "Glück" nennen. Aus dieser Sicht macht die Dichotomie "Eigeninteresse - Moral" keinen Sinn. Denn hier steht Moral gerade im Dienst des eigenen Interesses am Guten, nämlich im Dienste der Wahrheit dieses Guten und damit im Dienst des Interesses am Gelingen der eigenen Existenz, am "guten Leben". Gleichzeitig aber kann das Interesse der jeweils anderen bzw. der Allgemeinheit an ihrem Wohl und dem für sie Guten jetzt auch als eigenes Interesse verstanden werden, da es - sofern der Handelnde auf Kohärenz bedacht ist - unmöglich erscheint, ein "Für-mich-in-Wahrheit-Gutes" anzuerkennen und praktisch zu verfolgen, wenn ich es nicht grundsätzlich auch als ein "Für-die-anderen-Gutes" anerkenne und insofern daran, dass sie dieses Guten teilhaftig werden, auch ein persönliches Interesse habe. (Fs)

15d Gerade die grundlegende Ausrichtung praktischer Vernunft nicht an einem bloße subjektive Neigung übersteigenden "Sollen", sondern am "Guten", wie es vernunftgeleitetem Streben gegenständlich ist, garantiert zwar nicht die Harmonie von Eigeninteresse und Interesse anderer, wohl aber, dass das Eigeninteresse auch das Interesse, das Wohl, des anderen einzuschließen vermag, - weil es eben Interesse am wahrhaft Guten ist. Die Relevanz von Moral und ihren Wahrheitsansprüchen für die Verfolgung meines persönlichen Interesses garantiert dann gerade die Universalisierbarkeit solcher Ansprüche, die Gemeinsamkeit der Interessen und damit eine grundlegende - wenn auch nicht notwendigerweise bruchlose - Verschränkung von Eigeninteresse und Moral. Freilich heißt dies nicht, sittliche Forderungen bzw. praktische Urteile seien wesentlich universal oder universalisierbar. Sie sind im Gegenteil partikulär, situationsgebunden, konkret und, wie Aristoteles sagt, "immer wieder anders". Aber gerade insofern praktische Urteile partikulare Handlungsurteile sind, sind sie wiederum gar nicht Thema der Moralphilosophie oder Ethik, sondern eben Gegenstand der handlungsleitenden Klugheit. Moralphilosophie beschäftigt sich gerade mit dem diesen zugrundeliegenden Allgemeinen, wodurch konkretes Urteilen und Handeln eben "moralisch" wird. Gerade deshalb muss sie sich allerdings auch mit den Grenzen des "moralisch Möglichen" beschäftigen, denn nichts kann positiv bestimmt werden, wenn es nicht zugleich auch ein- und abgegrenzt wird. Insofern sich Ethik mit moralischen Grenzen beschäftigt, wird sie auch zu konkreten Aussagen über "dürfen" und "nicht-dürfen" kommen. (Fs)

16a Die wahre, der Perspektive der Moral eigene Dichotomie ist deshalb jene zwischen bloßem subjektiven Schein des Guten und der Wahrheit dieses "Scheinens des Guten" vor der praktischen Vernunft. "Moral" steht nicht im Dienste der Überwindung oder Unterdrückung von Subjektivität (auch nicht empirischer und sinnlicher Subjektivität), sondern im Dienste ihrer Wahrheit, gerade auch - und dies ist mit einem kritischen Seitenblick auf Kant gesagt - der Wahrheit der durch unsere empirischen und sinnlichen Antriebe geprägten Subjektivität. Die Perspektive einer Moral, der es um solche "Wahrheit der Subjektivität" zu tun ist, ist immer jene des handelnden Subjekts, der "ersten Person"3. Was in den Blick kommen muss, ist gerade dieser Standpunkt des handelnden Menschen, - der immer und notwendigerweise auf ein Gutes und, da er doch in seinem Streben nach dem Guten kein Betrogener sein will, auf ein "in Wahrheit Gutes" aus ist -, sowie der diesen Standpunkt reflektierende ethische Diskurs. Die heutigen Bemühungen um "Ethik", vor allem wenn sie sich primär als Diskurs zur Begründung von "Normen" verstehen, leiden oft gerade darunter, dieser Perspektive nicht gerecht zu werden, trotz aller wertvollen Teileinsichten. Sie leiden unter dem Verlust der Frage nach dem Ethischen4. Dies ganz besonders, wenn Ethik nur noch beansprucht, formale Regeln zur Normenerzeugung begründen zu können, nicht aber materiale Inhalte und Werte, auf die sich solche Normen zu beziehen hätten und die imstande sind, auch praktische Orientierungsleistungen zu erbringen. Solche Orientierungsleistungen sind heute je länger je mehr gefragt und deshalb kann es auch nicht verwundern, dass sich philosophische Ethik heute wieder zunehmend dem Diskurs über Inhalte und Werte, die konkret-praktische Orientierungsleistungen zu erbringen vermögen, zuwendet. (Fs)

16b Ethik hingegen, die sich in Analogie zum politisch-ethischen und rechtspolitischen Diskurs auf die Begründung formaler Prozeduren der Rechtfertigung von moralischen Normen beschränkt, scheint immer mehr aus dem Blick zu verlieren, was denn nun das "Moralische" solcher moralischen Normen eigentlich ausmacht, auch wenn sie sich durchaus damit beschäftig, "moralische Probleme" zu lösen. Besteht die "Grundfrage der Moral" wirklich darin, "wie interpersonale Beziehungen legitim geregelt werden können"5? Ist das nicht vielmehr die Grundfrage aller Politik und damit das Thema politischer Gerechtigkeit? Schließlich: Wo moralische Normen, kantianisch (aber hinter Kant zurückbleibend) als "praktische Regeln der Selbstbeschränkung von Freiheit um der Freiheit aller willen" verstanden werden, die im Wesentlichen den "wechselseitigen Anerkennungsprozess in einem Lebenskontext" reflektieren6, dann bedeutet das auch, dass Moral bzw. Ethik nichts anderes als das je wieder in solchen geschichtlicher Kontingenz unterworfenen Anerkennungsprozessen Erzeugte begriffen werden kann. Eine solche Ethik entspricht dem, was Charles Taylor "Ethics of Inarticulacy"7 nannte, in der keine Werthierarchien begründet werden können, die Frage nach der Superiorität von Auffassungen über das Gute bezüglich anderer Auffassungen also ausgeklammert wird. Nun haben aber Autoren wie J. Raz und Ch. Taylor eindringlich darauf hingewiesen, dass es Autonomie nicht geben kann, wenn ihr Sinn nicht auf jenes Gute bezogen wird, für das Autonomie eben gut ist, was wiederum nach Kriterien für die Auszeichnung moralisch wertvoller Handlungsmöglichkeiten und Lebensformen verlangt8; und dass die "Authentizität" des autonomen, nach Selbstverwirklichung strebenden Individuums nicht möglich ist, wenn nicht aller Autonomie vorgelagerte Bedeutsamkeits- und Sinnhorizonte anerkannt werden, die ermöglichen, unabhängig davon, was das autonome Subjekt jeweils für wertvoll erachtet und deshalb wählt, gewisse Dinge als wichtiger und bedeutsamer als andere zu bewerten9. (Fs)

17a Die oft einseitige Konzentrierung auf die Frage nach den bloß prozeduralen Bedingungen legitimer Begründung moralischer Normen hängt wohl auch wesentlich mit der zumindest für professionelle Philosophen kanonisch geltenden Meinung zusammen, in einer von Bewusst-seinsphilosophie, kantischer und nach-kantischer Erkenntniskritik, nietzschescher Metaphysikkritik und schließlich dem linguistic turn gekennzeichneten nachmetaphysischen Epoche sei so etwas wie "Wahrheit" für die Ethik kein Thema. Aus ähnlichen Gründen tut sich die Moderne schwer, die klassische, für den common sense der Alltagsvernunft immer noch zentrale "Frage nach dem guten Leben" zu stellen10. Auch der von vormodernen Ressourcen zehrende, oft abschätzig so genannte "Neoaristotelismus"11 weiß natürlich, dass gerade bei Aristoteles praktische Wahrheit sich von Wahrheit im epistemisch-theoretischen Sinne unterscheidet. Der ethische Diskurs der Moderne ersetzt deshalb, falls er nicht, eben in "neoaristotelischer" Weise, praktische Vernunft an Traditionen von Kommunitäten zurückbindet, Wahrheit durch Geltung, Richtigkeit (utilitaristischer oder pragmatischer Art), oder Zweckmäßigkeit. An die Stelle der Erkenntnis von Wahrheit treten Strategien der Rechtfertigung, obwohl man weiterhin weiß, dass die lebensweltliche Alltagsvernunft "realistisch" ist und sich an Gewissheiten und Wahrheitsansprüchen orientiert12. Es ist jedoch einleuchtend, dass in einer solchen Situation Ethik nur noch als das Geschäft der Begründung von Normen verstanden werden kann, da Programme der Normenbegründung am ehesten Wahrheitsfragen zugunsten von Strategien der bloßen Rechtfertigung auf sich beruhen lassen können13. (Fs)

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