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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Diagnose: Krise der Moderne; Positivismus, Historismus; Widerspruch: Grundlage der westlichen Tradition

Kurzinhalt: Der Spannungsbogen zwischen Philosophie und Religion scheint unterdessen zerbrochen zu sein ... So befindet sich die liberale westliche Tradition in einer Krise ...

Textausschnitt: 39a Die Meinungen, die das Selbstverständnis der Öffentlichkeit prägen, sind der natürliche Ausgangspunkt der politischen Philosophie. Ihre erste Aufgabe ist eine diagnostische, sie muß feststellen, welche die vorherrschenden Meinungen sind, sie auf ihren philosophisch bedeutsamen Kern zurückführen und sich ihrer Voraussetzungen versichern. Leo Strauss erkannte bald, daß so einfach die Dinge nicht lagen. Denn zu den vorherrschenden Meinungen zählte im 20. Jahrhundert die Überzeugung, daß Philosophie weder möglich noch notwendig sei. Ihr universaler Erkenntnisanspruch wurde in seinen beiden fundamentalen Voraussetzungen bestritten. Der Historismus behauptete, die Philosophie müsse vom Gedanken der Universalität Abschied nehmen, weil die »historische Erfahrung« die geschichtliche Relativität allen menschlichen Denkens offenbart habe. Das Dogma der modernen positivistischen Wissenschaft hatte andererseits die Ansicht popularisiert, nur die wissenschaftliche Erkenntnis objektiv festgestellter Tatsachen sei Erkenntnis im strengen Sinne. Strauss stand vor dem Befund, daß die Tradition der politischen Philosophie abgebrochen war. Man hielt sie für eine Folge mehr oder weniger brillanter Irrtümer, die das erbauliche Material für die Philosophiegeschichte als die letzte »philosophische« Disziplin lieferte. Die diagnostische Aufgabe, der sich Strauss gegenübersah, veränderte sich dadurch zu einer Besinnung der Philosophie auf ihre eigenen Voraussetzungen. Wie war es zum Abbruch der philosophischen Tradition gekommen? Mit welchem Recht wollten der Historismus und der Positivismus der Philosophie die Grundlage entziehen? Strauss nahm die herkulische Herausforderung an und begann, das Projekt der Moderne neu aufzurollen, um aus dem Anfang die Gegenwart zu verstehen. (Fs) (notabene)

Von Machiavelli zu Nietzsche: Das Projekt der Moderne

40a Ein Widerspruch ist die Grundlage der westlichen Tradition. Sie verdankt ihre Vitalität der unaufhebbaren Spannung zwischen Athen und Jerusalem. Sowohl die griechische Philosophie als auch der Glaube an die biblische Offenbarung beanspruchen, die dringendste Frage des Menschen - »Wie soll ich leben?« - beantworten zu können. Während die Philosophie das Gute durch die ungeleitete menschliche Vernunft erkennen will, verpflichtet der Glaube den Menschen zu gehorsamer Liebe gegenüber dem biblischen Gesetz. Beide Antworten schließen einander wechselseitig aus. Es hat immer wieder Versuche gegeben, die heterogenen Elemente miteinander zu versöhnen und »den Bogen abzuspannen«, doch kann es eine Synthese von Philosophie und Religion ebensowenig geben wie eine Synthese von Philosophie und Geschichte. Ein Kompromiß zwischen Philosophie und Religion wäre nur durch einseitige Unterordnung und durch die Preisgabe des wesentlichen Anspruchs einer der beiden rivalisierenden Mächte möglich. Die Philosophie würde zur Magd der Theologie herabsinken oder umgekehrt. Die westliche Tradition lebt zu einem großen Teil von den verschiedenen Versuchen, sich vor dem Gegner zu rechtfertigen oder die Ansprüche des Gegners zu bestreiten. Ohne den Antagonismus der fundamentalen Alternative kann es die westliche Tradition so wenig geben wie eine Gesellschaft ohne Widersprüche. Konformismus wirkt zerstörerisch.1 (Fs)

41a Der Spannungsbogen zwischen Philosophie und Religion scheint unterdessen zerbrochen zu sein. Eine Zeitlang sah es für einige Beobachter so aus, als sei die Philosophie aus dem Streit zwischen Orthodoxie und Aufklärung als Siegerin hervorgegangen, wenigstens in jenen Systemen, in denen die atheistische Gesellschaft Wirklichkeit geworden war. Diese Gesellschaften haben ihre »Philosophien« inzwischen mit sich ins Grab genommen. Die liberale ökonomisch-technische Zivilisation, die den säkularen Kampf der Systeme überlebt hat, bestreitet ihrerseits den Erkenntnisanspruch der Philosophie im Namen der Wissenschaft. Philosophische Einsicht stehe auf einer Stufe mit allen anderen möglichen Überzeugungen und Einstellungen. Erkenntnis, die sich nicht wissenschaftlich ausweisen könne, sei Ideologie. Der moderne Rationalismus hat es der Philosophie schwergemacht, ihre bloße Möglichkeit zu rechtfertigen. So befindet sich die liberale westliche Tradition in einer Krise, sie steht in der Gefahr einer vollständigen Desintegration und kann an ihren eigenen Zweck, die universale Gesellschaft freier und gleicher Menschen, nicht mehr glauben machen. Strauss erinnert zu Beginn von Naturrecht und Geschichte an die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, in der die religiösen und naturrechtlichen Grundlagen des amerikanischen Systems als »von selbst einleuchtende Wahrheiten« bezeichnet werden, und weist darauf hin, daß man diese »Wahrheiten« unter dem Einfluß des deutschen Denkens in Amerika heute allenfalls noch für ein Ideal oder einen Mythos hält. Ein anderer Ausdruck der modernen Krise ist das Versagen von Politik und Gesellschaft im Angesicht der Vernichtung der Menschlichkeit durch die Tyranneien des 20. Jahrhunderts. Die Moderne kennt ihre Prinzipien nicht mehr, ihre geistigen Grundlagen sind fragwürdig geworden. Der Streit zwischen Athen und Jerusalem scheint verstummt. Der Sieg der »Philosophie« über die Autorität des Glaubens war ein zweifelhafter Erfolg, wenn er um den Preis ihres Verschwindens erkauft werden mußte. Die politische Krise der Moderne ist eine Folge der Krise der westlichen Tradition.1 (Fs)

42a Es ist eine weit gehende, aber hochinteressante These, die Krise der Moderne als Krise der Philosophie zu identifizieren. Sie beinhaltet die stillschweigende Folgerung, daß die Überwindung der Krise nur durch die vollständige Rehabilitierung und Wiedereinsetzung der politischen Philosophie, die ursprünglich mit politischer Wissenschaft identisch war, möglich ist. Diese Konsequenz ist selbst ein Argument für die Rechtfertigung ihrer Notwendigkeit, die Strausssche Pathologie ist schon im Ansatz Therapie. Um die Anlage des Werkes von Leo Strauss zu verstehen, muß man überlegen, welche Schritte zum Erreichen dieses Zieles notwendig sind. Die primäre Aufgabe ist eine Untersuchung der Bewegung, die zur Verwerfung der Möglichkeit der politischen Philosophie geführt hat. Prozesse kann man nur aus ihren Prinzipien verstehen. Das verlangt, zum Beginn der modernen politischen Wissenschaft zurückzukehren, die als das Instrument einer neuen Gesinnung das Ergebnis mehrfacher, komplizierter Transformationen grundlegender Einstellungen ist. Die Wissenschaft ist keine autonome, aus sich selbst gerechtfertigte Instanz. Sie ist abhängig von den Zwecksetzungen derjenigen, die sich ihrer bedienen. Man muß also die Prinzipien der modernen Haltung selbst herausarbeiten, philosophisch analysieren und in ihnen das positivistische und historistische Selbstverständnis sichtbar mächen, das zur Zerstörung des Rationalismus und zur Verwerfung der Möglichkeit der Philosophie geführt hat. Leo Strauss hat im Verlauf seiner Arbeit erkannt, daß eine Untersuchung der Anfangsgründe der modernen Haltung nur gelingen kann, wenn man die Reflexion um eine entscheidende Dimension erweitert. Die Analyse des modernen Denkens kann nicht ausschließlich vom Standpunkt der Moderne aus vorgenommen werden. Wer sie als eine Modifikation oder Transformation vormodernen Denkens begreift, muß zuvor die modifizierte Tradition so verstanden haben, wie sie sich selbst verstand. Um die Prinzipien der modernen politischen Wissenschaft angemessen auffassen zu können, muß man zuvor die Prinzipien der politischen Wissenschaft überhaupt kennen. Es ist deshalb aus systematischen Gründen notwendig, den historischen Rahmen der Moderne in Richtung auf den Ursprung der politischen Wissenschaft hin zu überschreiten. Man muß sich mit dem Problem des Sokrates befassen. (Fs) (notabene)
»Die positivistische politische Wissenschaft ist nicht direkt aus dem Verständnis des Bürgers von den politischen Dingen entstanden. Die positivistische politische Wissenschaft kam dank einer sehr komplexen Transformation der modernen politischen Philosophie ins Dasein, und die moderne politische Philosophie entstand ihrerseits dank einer sehr komplexen Transformation der klassischen politischen Philosophie. Ein angemessenes Verständnis der positivistischen politischen Wissenschaft, insofern es sich von einem bloßen Gebrauchen dieser Wissenschaft unterscheidet, ist nicht möglich außer durch ein Studium der politischen Schriften von Platon und Aristoteles, denn diese Schriften sind die bedeutendsten Dokumente der Entstehung der politischen Wissenschaft aus dem vorwissenschaftlichen Verstehen der politischen Dinge.«

43a Strauss erkannte eine weitere Notwendigkeit. Wer die Prinzipien des Selbstverständnisses der gegenwärtigen politischen Wissenschaft erkennen möchte, muß auf den derivativen Charakter ihrer Sprache und ihrer Methoden reflektieren, muß »die wesentliche Genese der Perspektive des politischen Wissenschaftlers aus der Perspektive des Bürgers verstehen«. Auch dies verlangt einen Rückgang auf das ursprüngliche Wissenschaftsverständnis der klassischen Tradition. Mit anderen Worten, weder die historische noch die positivistische Methodologie ist geeignet für die Lösung der Krise der Moderne. Strauss demonstriert, wie eine rein historische Untersuchung der Ursprünge der politischen Wissenschaft gezwungenermaßen bei Hippodamos von Milet enden und ihren Gegenstand damit verfehlen müßte. Er zeigt darüber hinaus die Unfähigkeit der positivistischen Sozialwissenschaft, von ihrem wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus auch nur Rechenschaft über ihre eigene Notwendigkeit abzulegen. Die charakteristische Beschränkung der modernen Sozialwissenschaft, die eine Funktion der charakteristischen Beschränkung der modernen Gesinnung ist, muß aus wissenschaftlichen Gründen selbst überschritten werden. Man muß deshalb eine neue Vision vom Ganzen entwickeln, welche die partikularen Horizonte der modernen Sozialwissenschaft, ihrer Methodologie und der historischen Anschauung, die ihr zugrunde liegt, überwindet, wenn man der Krise der Moderne Herr werden will. Es besteht eine wissenschaftliche Notwendigkeit an klassischer politischer Philosophie.2 (Fs)

44a Die vorherrschenden zeitgenössischen Denkschulen sind nach Strauss der Historismus und der Positivismus. Sie sind eine Funktion des modernen Projekts und bestreiten die Möglichkeit der Philosophie. Leo Strauss hat in verschiedenen Untersuchungen gezeigt, daß die Moderne ein moralisches Fundament hat und zugleich auf eine moralische Reduktion zielt. Einer Auseinandersetzung mit dem Historismus und dem Positivismus sollte deshalb eine Verständigung über die Entstehung, die Eigenart und die Entwicklung der Moderne vorangehen. Dazu schien es Strauss von Beginn an notwendig, die »querelle des anciens et des modernes« wiederaufzunehmen. Dieser Streit war eine literarische Kontroverse zwischen den Verfechtern der antiken Dichtung Griechenlands und Roms, deren Klassizität als ein nicht zu übertreffender Maßstab verteidigt werden sollte, und den selbst-bewußten Schriftstellern, die im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts vermeinten, eine neue Ära klassischer Literatur zu etablieren. Er war vor allem die letzte Auseinandersetzung zwischen der Tradition und der Moderne, die, wenn auch nicht bis zu ihrem Ende, in einem ungeschichtlichen Bewußtsein geführt wurde. Die »Wiederaufnahme« der »querelle« durch Leo Strauss zu Beginn der dreißiger Jahre kennzeichnet die Auflehnung gegen das vorherrschende historische Bewußtsein, das einen wirklichen Streit um die Sache mit Positionen, die in der Vergangenheit formuliert wurden, gar nicht mehr zuläßt. Es geht Strauss nicht um die »Rückkehr« zu vormodernen Positionen, sondern um eine fundamentale Auseinandersetzung in der Gegenwart, die sich die Bedingungen nicht vom Gegner und den Vorurteilen, auf die er sich stützt, aufzwingen lassen will. Der Disput, den Strauss initiiert, gerät inhaltlich zu einer Kontroverse zwischen der klassischen Philosophie und der philosophisch sterilisierten, vom historischen und positivistischen Denken geprägten modernen Wissenschaft, die sich auf den Trümmern Europas mit dem strahlenden Glanz von technischer Naturbeherrschung und ökonomischer Wohlfahrt umgibt. Dabei verteilt Strauss die Beweislast neu und macht klar, daß die Verfechter der modernen Grundsätze selbst auf einer Auseinandersetzung mit nichtmodernen Prinzipien bestehen müssen. Sie können sich nicht auf eine reine Verteidigungsposition zurückziehen. Sie müssen, wenn sie ihren eigenen Prinzipien treu bleiben wollen, zu denen die Forderung nach Befreiung von Vorurteilen und die Aufforderung zu radikalem Zweifel gehören, die Fähigkeit entwickeln, ihre Grundsätze dauernd aus kritischer Distanz, und das heißt aus der Perspektive ihrer Gegner, zu überprüfen. Andernfalls würden sie sich dem Verdacht aussetzen, verhüllte Interessen zu vertreten und dogmatisch an einer etablierten Position festzuhalten. Die fortdauernde freie und unparteiliche Überprüfung unserer Grundanschauungen ist nach den modernen Leitideen notwendig. Die Wiederaufnahme des Streites blieb kein den Schriften von Leo Strauss immanentes Motiv. Er schlug sich äußerlich nieder in der Debatte mit Alexandre Kojeve, der 1950 in einem Aufsatz über Tyrannis und Weisheit, der ursprünglich L'action politique des philosophes hieß, auf Strauss' ungewöhnliche Interpretation von Xenophons Dialog Hieron geantwortet hatte.3 (Fs)

46a Um den Streit zu verstehen, den Leo Strauss wiederaufnimmt, ist es notwendig, seine Abgrenzung von Antike und Moderne nachzuzeichnen. Die Unterteilung der Geschichte in Moderne und Vormoderne setzt einen scheinbar simplifizierenden Epochendualismus mit einer Zeitscheide im 16. Jahrhundert voraus. Strauss ist sich absolut des Umstandes bewußt, daß diese beiden Großepochen keineswegs homogene historische Entwicklungsphasen sind, sondern daß sie erstens in sich differenziert und zweitens füreinander durchlässig sind. In der Antike gab es »Moderne«, wie es in der Moderne lebendige »antike« Traditionen gibt. Deshalb ist es wichtig, daß die Unterscheidung von Antike und Moderne nicht nur kein chronologisches Kriterium, sondern auch keine chronologische Bedeutung hat. Ein Phänomen ist nicht deshalb modern, weil es, sagen wir, zwischen 1532 und heute auftaucht. Wenn es darum geht, die Prinzipien der Moderne kritisch zu überprüfen, dann ist die Moderne auf eine Weise abzugrenzen, wie es dem Selbstverständnis ihrer Protagonisten entspricht. So gehörte es zum Selbstverständnis Machiavellis, einen radikalen Bruch mit den Prinzipien der Tradition vollzogen zu haben, auch wenn er seinen Anspruch auf Originalität weniger freimütig erhob, als es nach ihm Thomas Hobbes tun sollte. Genau dieser Anspruch wird zu dem entscheidenden Kriterium, die Moderne zu bestimmen. Modernität ist eine Haltung, um nicht zu sagen eine Gesinnung, die sich zunächst in der negativen Absicht ausdrückt, klassische Philosophie in all ihren Formen zurückzuweisen. Das ist auch der Grund, weshalb das Mittelalter im Straussschen Dualismus nicht auftaucht. Ob Machiavelli, Bodin oder Hobbes, alle wenden sich gegen die klassischen Prinzipien und nicht primär gegen das mittelalterliche Denken, das im Gegenteil eine grundsätzliche Gemeinsamkeit mit der Moderne hat, nämlich von der biblischen Lehre beeinflußt zu sein, wenn auch in ganz anderer Weise als diese. Die Übereinstimmung der klassischen politischen Philosophie bestand in der Überzeugung, daß das Ziel des politischen Lebens die Tugend ist, wobei die aristokratische Republik oder das gemischte Regime diejenige Ordnung ist, die der Tugend am meisten dient. Die Zurückweisung des klassischen Schemas als unrealistisch ist das der Moderne zugrundeliegende negative Prinzip.4 (Fs) (notabene)

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