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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Sexualiät und Verantwortung

Titel: Sexualität und Verantwortung

Stichwort: Deskriptive Definition: kontrazeptive Wahl; Empfängnisverhütung als intentionale Handlung

Kurzinhalt: Eine kontrazeptive Wahl ist die Wahl einer Handlungsweise, die darin besteht, mit willentlicher Zustimmung vollzogene Akte des Sexualverkehrs ... Sie impliziert ...

Textausschnitt: a) Empfängnisverhütung als intentionale menschliche Handlung

43a Im weiteren Verlauf der Analyse wollen wir uns auf das Problem der kontrazeptiven Wahl (=Akt des willentlichen Entschlusses, eine empfängnisverhütende Maßnahme anzuwenden) konzentrieren, und zwar insofern dies die Wahl eines bestimmten Typs menschlicher Handlung ist. Die Analyse muß sich strikt auf den angeführten, in diesem Zusammenhang allein relevanten Fall beschränken, der durch folgende Elemente beschrieben werden kann:

(1) Es existiert eine moralisch einwandfreie Intention der Eheleute, eine Empfängnis zu vermeiden. (Fs)

(2) Es handelt sich um einen Fall, in dem periodische Enthaltung eine moralisch unproblematische Alternative wäre. (Fs)

(3) Es existiert gleichzeitig eine zumindest implizite Wahl, keine periodische Enthaltung zu praktizieren, d.h. sich nicht jener Akte zu enthalten, die voraussichtlich prokreative Folgen (Zeugungsfblgen) haben werden. (Fs)

(4) Anstatt periodische Enthaltung zu wählen, wird ein Mittel gewählt, durch das die prokreativen Folgen aller Sexualakte zu jeder beliebigen Zeit verhindert werden. Dieses Mittel kann die "Pille" sein; denkbar sind aber auch andere chemische, mechanische oder operative Maßnahmen, wie Kondome, Intrauterinpessare (IUD's, "Spirale") oder Sterilisierung oder auch eine "natürliche" Maßnahme wie der sogenannte coitus interruptus (vorzeitiger Abbruch und onanistischer Abschluß des Sexualverkehrs). Auf der vorliegenden Argumentationsebene läuft all dies auf dasselbe hinaus. (Fs)

44a Wir analysieren also Empfängnisverhütung als eine bestimmte Art von menschlicher Handlung. Zum vorliegenden Zweck schlage ich die folgende Beschreibung (deskriptive Definition) der Wahl dieser menschlichen Handlung vor:

44b Eine kontrazeptive Wahl ist die Wahl einer Handlungsweise, die darin besteht, mit willentlicher Zustimmung vollzogene Akte des Sexualverkehrs, welche voraussichtlich prokreative Folgen haben, daran zu hindern, solche Folgen haben zu können, und die eine Wahl ist, die genau aus diesem Grund vollzogen wird. (Fs)

44c Es scheint mir, daß dies eine erschöpfende Beschreibung der kontrazeptiven Wahl ist und daß sie auf Empfängnisverhütung sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Ehe zutrifft. Sie impliziert

(1) die Intention (Absicht), Akte des Sexualverkehrs zu vollziehen;
(2) die Voraussicht, daß dies den Beginn neuen menschlichen Lebens (einer Schwangerschaft) verursachen kann;
(3) die Wahl einer Handlung, welche diese Folge des eigenen Sexualverhaltens verhindert;
(4) Sie impliziert, diese Handlung genau deshalb zu wählen, um das mögliche Eintreten dieser Folge zu verhindern. (Fs)

45a Wie bereits erwähnt, trifft diese Beschreibung auch auf onanistische Akte durch "coitus interruptus" zu (weil dies eine Maßnahme ist, die den Vollzug von Sexualverkehr daran hindert, prokreative Konsequenzen zu haben) und andererseits trifft sie offensichtlich am meisten auf operative Sterilisierung zu. Sie kann sich sogar auf Abtreibung beziehen, insofern eine Abtreibung als Bestandteil kontrazeptiver Strategie verstanden wird, d.h. insofern Abtreibung von Anfang an als eine Möglichkeit ins Auge gefaßt wird, um voraussichtlich mögliche prokreative Folgen von Sexualverkehr zu "neutralisieren", d.h. gleichsam rückgängig oder "ungeschehen" zu machen (in diesem Fall involviert Abtreibung sowohl die kontrazeptive Wahl wie auch die zusätzliche Wahl ein bereits lebendes menschliches Wesen zu töten). (Fs)

45b Man beachte, daß die vorgenommene Beschreibung von Empfängnisverhütung völlig unabhängig davon ist, was auf der physischen Ebene geschieht; um das zur Diskussion stehende Problem zu lösen ist es völlig einerlei, ob man z.B. den Fall einer Verhinderung der Zeugungsfolgen von Sexualverkehr durch Einnahme der "Pille" betrachtet, oder den Fall des Abbruchs des Sexualaktes und seiner onanistischen Vollendung. Es gibt hier freilich Unterschiede anderer Art, die aber im gegenwärtigen Zusammenhang bedeutungslos sind. Die vorgeschlagene Beschreibung sieht auch ab vom Unterschied zwischen "Tun" und "Unterlassen eines Tuns", denn "coitus interruptus" ist ja eine Form des Unterlassens; und weiter ist ja die Beschreibung offensichtlich nicht anwendbar für den Fall, daß jemand kontrazeptive Mittel anwendet, um die möglichen Zeugungsfolgen einer voraussichtlich eintretenden Vergewaltigung zu verhindern, denn die eine Vergewaltigung fürchtende Person wählt ja nicht, mit jemandem sexuell zu verkehren bzw. die Zeugungsfolgen des eigenen, von willentlicher Zustimmung begleiteten Sexualverhaltens zu verhindern. Dasselbe gilt von einer Sportlerin, die etwa während der Zeit Olympischer Spiele eine ovulationshemmendes Präparat einnimmt, um die Regelblutung zu vermeiden. Hier ist das, was ich den "ethischen Kontext" genannt habe - und damit das Objekt der Handlung - jeweils völlig verschieden1. Die Beschreibung kann hingegen - obwohl auch hier noch einige Differenzierung nötig wäre - angewandt werden auf aufgenötigten Sexualverkehr innerhalb der Ehe, da ja die Ehe eine grundsätzliche willentliche Zustimmung impliziert, mit dem Ehepartner sexuell zu verkehren (womit freilich nicht gemeint ist, daß aufgenötigter Sexualverkehr innerhalb der Ehe sittlich zu rechtfertigen ist2. (Fs)

46a Aufgrund dieser Beschreibung, welche, wie mir scheint, die handlungstheoretische Substanz der menschlichen Handlung "Empfängnisverhütung" adäquat zum Ausdruck bringt, wird es möglich sein auszumachen, daß der Grund für die sittliche Verkehrtheit der Kontrazeption nicht die Tatsache ist, daß sie naturgegebenen Strukturen der Zeugungspotenz oder anderen "natürlichen" Gesetzen zuwiderläuft, weil ja nicht jeder empfängnisverhütende Akt ein solches Zuwiderhandeln oder Eingriffe in natürliche Prozesse impliziert, während andere Akte (wie die Einnahme eines ovulationshemmenden Präparates aus Furcht vor den Folgen einer voraussichtlichen Vergewaltigung oder zur Vermeidung der Regelblutung während eines sportlichen Wettbewerbs), die in der Tat einen solchen "unnatürlichen" Eingriff implizieren, gar nicht unter die Beschreibung der intentionalen menschlichen Handlung "Empfängnisverhütung" fallen. (Fs)

46b Viele Fehlbeurteilungen beruhen einfach auf einer unzulänglichen Definition der menschlichen Handlung "Kontrazeption", nämlich einer Definition auf der rein medizinisch-technischen Ebene einer bestimmten Art von Maßnahme. Über "Kontrazeption" in diesem Sinne kann man aber gar kein moralisches Urteil fällen, höchstens eines über ihre technische Richtigkeit. So gibt es "bessere" und "schlechtere" kontrazeptive Mittel hinsichtlich Wirksamkeit, Nebenwirkungen usw. Um ein sittliches Urteil vollziehen zu können, müssen wir "Kontrazeption" als eine dem freien Willen entspringende Handlungsweise beschreiben (als actus humanus). Erst so wird deutlich, daß nicht jede Handlung, die medizinisch gesehen "kontrazeptiv" (z.B. ovulationshemmend) wirkt, auch die menschliche Handlung "Empfängnisverhütung" ist. Vielmehr können es objektiv ganz verschiedene Handlungen sein: Jene, die wir als "Empfängnisverhütung" definierten, oder aber z.B. die Handlung "Selbstverteidigung vor den prokreativen Folgen einer physischen Aggression" oder "Sicherung sportlicher Fitneß". (Fs)

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