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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Apostasie

Titel: Apostasie

Stichwort: Voltaire: Ablehnung einer personalen Ethik; Tugend als Handel von guten Taten; Identifikation des Guten mit dem gesellschaftlich Nützlichen

Kurzinhalt: Die transzendente Konstitution der Menschheit im Pneuma Christi wurde durch den Glauben in die innerweltliche Konstitution der Menschheit durch "Mitgefühl" ersetzt

Textausschnitt: 47a Voltaires geistiger Obskurantismus machte es ihm unmöglich, eine Philosophie der Moral um die Idee der geistig integrierten Persönlichkeit zu entwickeln. Die Probleme der Ethik wurden unter dem Titel "Natürliche Religion" abgehandelt. "Ich verstehe unter natürlicher Religion die Prinzipien der Moral, die der menschlichen Spezies gemeinsam sind."1 Solche gemeinsamen Regeln sollen deswegen existieren, weil sie der biologischen Struktur des Menschen entspringen und dem Zweck dienen, das Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Die grundlegende Regel ist somit eine kollektivierte Version der Goldenen Regel: Man sollte andere so behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Die Regel gründet sich nicht auf der Voraussetzung einer geistigen Person oder der Anerkennung der geistigen Person im Mitmenschen; sie gründet sich vielmehr auf dem Nutzen für die Gesellschaft in Übereinstimmung mit dieser Regel. "In jeder Gesellschaft bezeichnet man Tugend als das, was für die Gesellschaft nützlich ist."2 Voltaire lehnt die Legitimität einer personalen Ethik explizit ab. "Was bedeutet es mir, dass du maßvoll bist. Du befolgst damit eine Regel der Gesundheit; es wird dir so besser ergehen und ich wünsche dir alles Gute: Du besitzt Glauben und Hoffnung, und ich wünsche dir umso mehr, dass es dir gut geht: dies wird dir das ewige Leben garantieren. Deine theologischen Tugenden sind Gaben des Himmels; deine Kardinaltugenden sind ausgezeichnete Qualitäten, die dir bei deinem Verhalten helfen; aber sie sind keine Tugend mit Blick auf deine Nachbarn. Der Weltkluge wird sich selbst Gutes tun, der Tugendhafte anderen Menschen." Der Heilige ist weder gut noch schlecht; er bedeutet uns nichts. "Tugendhaftigkeit unter Menschen ist ein Handel von guten Taten; wer nicht Teil dieses Handels ist, zählt nicht."3 (Fs)

48a Diese Passagen gewähren den vielleicht klarsten Einblick sowohl in das innerweltliche religiöse Sentiment als auch in die Ideen vom Menschen und die durch sie bestimmte Moralität. Die transzendente Konstitution der Menschheit im Pneuma Christi wurde durch den Glauben in die innerweltliche Konstitution der Menschheit durch "Mitgefühl" ersetzt. In diesem Punkt befand sich Voltaire in enger Anlehnung an Newton. "Newton glaubte, dass die Disposition, mit der wir in der Gesellschaft leben müssen, die Grundlage des Naturgesetzes ist." Die Disposition des Mitgefühls im Menschen ist so allgemein wie seine anderen Instinkte. "Newton kultivierte dieses Sentiment der Humanität und übertrug es auf die Tiere." [...] "Dieses Mitgefühl, das er für die Tiere empfand, wandelte sich in echte Nächstenliebe für seine Mitmenschen. In der Tat verdient der Philosoph kaum seinen Namen, wenn er nicht die Tugend aller Tugenden - die Humanität - besitzt."1 Offensichtlich sind hier Elemente des Stoizismus und des Averroismus in den Glauben an die Humanität als einem verfeinerten biologischen Instinkt, der der Existenz des animalischen Stammes dient, eingedrungen. (Fs)

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