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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Apostasie

Titel: Apostasie

Stichwort: Voltaire (Éléments de la philosophie de Newton), Vernunft, Aufklärung; Newton; Seele: caritas - gratia; fides caritate formata (christliche Symbole); cognitio fidei

Kurzinhalt: Die Seele entwickelt die Fähigkeiten der cognito fidei, der Erkenntnis mittels des Glaubens in Bezug auf Angelegenheiten, die der natürlichen Vernunft nicht zugänglich sind

Textausschnitt: 42a Was ist Vernunft? Und wann ist der Mensch aufgeklärt? Die Antworten auf diese Fragen sind gewiss nicht einfach. Vernunft bestand bei Voltaire aus keiner philosophischen Idee wie in Kants Kritik, sondern bildete einen Komplex von Sentiments und Erkenntnissen, die aus verschiedensten Quellen gesammelt worden waren. Wir können ihn nur verstehen, wenn wir uns mit den ihn konstituierenden Faktoren befassen. Einer der für unsere Zwecke besonders wichtigen Faktoren ist die Identifikation mit einer rationalen Weltsicht - und zwar mit der der Philosophie Newtons. Während seines Aufenthaltes in England war Voltaire sehr von Lockes Philosophie und Newtons Physik angetan. [...]

42b Folglich ist eine Analyse der Elements die beste Einführung in die Position Voltaires. Bevor wir in die Analyse selbst eintreten, empfiehlt es sich, das Problem der Elements in einer systematischen Form zu formulieren. Kurz gesagt handelt es sich dabei um Folgendes: Die Symbole der christlichen Lehre in Bezug auf die menschliche Seele, die transzendente Realität und ihre Beziehungen zueinander sind kein Korpus von empirisch verifizierbaren Propositionen, die nach gebührender Prüfung als wahr akzeptiert werden müssen. Sie erlangen vielmehr ihre Bedeutung als Äußerungen eines geistigen Prozesses, in welchem die Seele mit Caritas für die übernatürliche Hilfe der gratia empfänglich wird. In dieser Antwort konstituiert sich die fides caritate formata, welche die Möglichkeit eröffnet, verstehend nach dem Übernatürlichen zu greifen. Die Seele entwickelt die Fähigkeiten der cognito fidei, der Erkenntnis mittels des Glaubens in Bezug auf Angelegenheiten, die der natürlichen Vernunft nicht zugänglich sind.1 Ohne die Wirklichkeit dieses geistigen Prozesses werden Theologumenon und Anthropologie zu leeren Hülsen. Ist die Substanz erst einmal verloren gegangen, so wird die professionelle theologische Beschäftigung mit ihnen zu jenen zweifelhaften katholischen wie auch protestantischen Kontroversen des siebzehnten Jahrhunderts degenerieren, die für die breite Mehrheit der westlichen Menschheit die Scholastik zu einem Synonym für Obskurantismus* gemacht haben. Ist jedoch nicht nur die Substanz verloren, sondern darüber hinaus auch das aktive Zentrum des intellektuellen Lebens auf die Ebene unseres Wissensstands über die äußere Welt abgeglitten - dann nehmen die Symbole, die das christliche geistige Leben zum Ausdruck bringen, die zuvor diskutierte Undurchsichtigkeit an. Sie werden entweder ganz aufgegeben, weil sie irrelevant geworden sind oder sie werden - sind die Sentiments der Tradition noch stark genug - rationaler Simplifizierung, psychologischer Interpretation und utilitaristischer Rechtfertigung ausgesetzt sein. Diese letzte Position - die Undurchsichtigkeit der Symbole, verbunden mit traditioneller Verehrung für sie - ist sowohl Newtons als auch Voltaires Position. (Fs) (notabene)

44a Wenn wir uns nun den Éléments selbst zuwenden, spüren wir, dass das geistige Leben der Seele im christlichen Sinne - und mit ihm die cognitio fidei - verschwunden ist. Das Wissen um die äußere Welt, insbesondere in der Astronomie und Physik, setzt den Standard dafür, was als Wissen anerkannt werden kann. Folglich darf die Diskussion der christlichen Symbole nicht mit der Analyse eines geistigen Prozesses eröffnet werden, sondern mit einer Formel, die die Anerkennung Gottes als biographische Tatsache im Leben Newtons andeutet: "Newton war von der Existenz Gottes zutiefst überzeugt." Die Quelle der Überzeugung bleibt für den Moment im Dunklen, und der nächste Schritt ist eine Definition: "Unter diesem Satz verstand er nicht nur ein infinites, allmächtiges Wesen, ewig und Schöpfer, sondern einen Meister, der zwischen sich und seinen Geschöpfen eine Beziehung herstellte." Der Definition folgt nun der "Grund" für die Annahme, dass zwischen Gott und seinen Geschöpfen eine Beziehung besteht: "Ohne diese Beziehung ist das Wissen von einem Gott nur eine sterile Idee, die aufgrund der Hoffnung auf Straffreiheit zu Verbrechen einlädt, denn jeder raisonneur ist verderbt geboren."1 Diese einleitenden Sätze der Elements bestimmen den Stil für die neue Haltung gegenüber den christlichen Symbolen. Die Existenz Gottes war zu einer menschlichen Überzeugung geworden, die, um von Nutzen zu sein, mit einem gewissen Inhalt besetzt werden muss. Die persönliche Beziehung zwischen Gott und seinen Geschöpfen muss postuliert werden, weil sich der Rechtsverletzer sonst nicht mehr aus Angst vor Strafe abschrecken ließe. Voltaire markiert hier die Richtung, die von einem Feuer und Schwefel-Christentum zu einem utilaristischen Lust und Schmerz-Kalkül führt. Und die abschließende Bemerkung enthält eine der gelegentlich tiefen Einsichten Voltaires: dass nämlich der Mensch, der denkt (der raisonneur), verderbt ist und der Angst vor Strafe bedarf, weil sein Leben nicht mehr durch Gnade und Liebe auf die Transzendenz hin orientiert ist. (Fs)

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