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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Apostasie

Titel: Apostasie

Stichwort: Voltaire: innerweltliche Heilsgeschichte; corpus mysticum

Kurzinhalt: Der Historiker wählt eine partielle Sinnstruktur, erklärt sie zu einem Ganzen, und ordnet den Rest des historischen Materials mehr oder weniger geschickt um das bevorzugte Sinnzentrum an ...

Textausschnitt: b. Die innerweltliche Heilsgeschichte

20a Da die Menschheitsgeschichte, wie oben gezeigt, keine erkennbare Sinnstruktur aufweist, muss die Konstruktion von einem Kunstgriff Gebrauch machen, für den Voltaire dieses Modell aufstellte: Der Historiker wählt eine partielle Sinnstruktur, erklärt sie zu einem Ganzen, und ordnet den Rest des historischen Materials mehr oder weniger geschickt um das bevorzugte Sinnzentrum an. Die Konstruktion ist ein Derivativ der christlichen Einteilung in eine Heils- und Profangeschichte, mit dem Unterschied allerdings, dass die neue Heilsgeschichte keine transzendenten Implikationen hat. Die als heilig herausselektierte Teilgeschichte gewinnt ihre bevorzugte Stellung dadurch, dass sie als Ausdruck einer neuen innerweltlichen Religiosität dient. Das Verfahren ist rational unhaltbar, und die Konstruktionen sind kurzlebig, weil sie den sich schnell verändernden innerweltlichen Sentiments des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts dicht auf dem Fuße folgen. Nichtsdestoweniger sind sie von entscheidender Bedeutung in der Geschichte der politischen Ideen, weil sie echte Evokationen neuer Gemeinschaften sind, die dahin tendieren, das christliche corpus mysticum zu ersetzen. (Fs)

21a Bei der Analyse der Konstruktion müssen wir zwischen den Kategorien des Sinns und dem historischen Material, auf das sie angewendet werden, unterscheiden. Die Sinnkategorien sind wieder christliche Analoga. Voltaire sprach von Auslöschung, Wiedergeburt und Fortschritt des menschlichen Geistes. Auslöschung korrespondiert mit dem Fall, Wiedergeburt mit der Erlösung und Fortschritt mit dem Dritten Reich geistiger Vollkommenheit. Die in das System verarbeiteten Materialien waren das Mittelalter (Auslöschung), die Ära der beginnenden Toleranz seit Heinrich IV (Wiedergeburt) und Voltaires eigenes Zeitalter (Fortschritt). Die Kategorisierung stand nicht in Analogie zum Augustinischen saeculum senescens, sondern eher zur trinitarischen Spekulation von Joachim von Flora. Voltaire nahm die Neugliederung der Geschichte an jenem Punkt wieder auf, an dem sie die Denker des dreizehnten Jahrhunderts angesichts des orthodoxen Widerstands hatten abbrechen müssen - wenn auch mit der grundlegenden Veränderung der Substanz: Der Geist des neuen Dritten Reichs war nicht der Geist der autonomen christlichen Persönlichkeit, sondern der Geist des autonomen Intellektuellen. Während Voltaires Konstruktion zwar nicht sonderlich gründlich durchgearbeitet war, kündigten sich in ihr doch die späteren Konstruktionen des Dreiphasengesetzes von Saint Simon und von Comte an: der religiösen, metaphysischen und positiv-wissenschaftlichen Phase. Da der in die Kategorien einfließende Inhalt eine unabhängige Variable ist, kündigt sich außerdem die Möglichkeit des Einfließens neuer Materialien in das kategoriale Muster an, so wie es dann in der Tat in den marxistischen und nationalsozialistischen Konstruktionen geschah. (Fs)

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