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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Internet

Titel: Die europäische Kultur und der banale Nihilismus oder: Die Einheit von Mythos, Kult und Ethos

Stichwort: Kultur, Mythos, Kirche, Europa; Transsubstantiation: Ausgangspunkt der Transzendierung und Humanisierung der Natur; sacrum commercium; Descartes, Euthanasie, Kontrazeption

Kurzinhalt: Wenn die Präsenz des Göttlichen in der Gesellschaft Kern jeder authentischen Kultur ist ... Darauf aber beruht wiederum alle Kultur. Das sacrum commercium von göttlicher und menschlicher Welt hat sein Analogon

Textausschnitt: 11 Wenn die Präsenz des Göttlichen in der Gesellschaft Kern jeder authentischen Kultur ist, dann besteht die kulturelle Leistung der Kirche für Europa zuerst und vor allem darin, diese Präsenz darzustellen. Ob also die Kirche für die Kultur Europas eine entscheidende Bedeutung haben wird, hängt davon ab, ob sie ganz sie selbst ist, ob sie in Lehre, Kult und Ethos ihre Identität bewahrt oder zurückgewinnt. Diese Präsenz hat eine doppelte Gestalt, eine kognitive und eine praktische, Mythos und Ethos. Die Mitte, aus der beide hervorgehen, das sacrum commercium, der heilige Austausch von göttlicher und menschlicher Welt, ist der Kult, das kultische Opfer. (Fs)

12 Unter Mythos verstehe ich eine Deutung der Wirklichkeit, die sich von wissenschaftlicher Deutung prinzipiell unterscheidet. Wissenschaft setzt die Welt als ganze immer schon voraus und stellt Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Welt fest. Wo die Naturwissenschaft statt dessen singuläre Geschichten erzählt - also die Geschichte von der Evolution des materiellen Universums -, da handelt es sich um hypothetische Rekonstruktionen aufgrund gegebener Ausgangsdaten und bekannter Naturgesetze. Der Mythos ist dagegen eine überlieferte Geschichte, die jeder Theorie vorausliegt. Sie bezieht sich auf die Welt als ganze, als einmaliges Ereignis, auf ihren Ursprung, auf ihr Ziel, auf den Grund ihrer unbefriedigenden Verfassung und auf den Weg zur Überwindung dieser Verfassung. Authentische Kultur setzt stets eine solche Erzählung voraus, die die Welt als Ganzes deutet. Der Mythos des Christentums beginnt mit der Erschaffung der Welt. Im Mittelpunkt steht das Erscheinen Gottes in der Welt in Gestalt des Jesus von Nazareth, seine Geburt von einer Jungfrau, sein Tod am Kreuz unter Pontius Pilatus und seine leibliche Auferstehung. Das Christentum versteht seinen Mythos im Gegensatz zu den Mythen der Heiden zugleich als geschichtliche Wahrheit. Also als etwas, das man in wahrheitsfähigen Sätzen ausdrücken kann. Der Glaube der Kirche artikuliert sich in solchen Sätzen, also in Dogmen. Um die Wahrheit wurden in Europa mörderische Bruderkriege geführt, bis dann das resignative Prinzip sich durchsetzte, das Thomas Hobbes so formulierte: "non veritas sed auctoritas facit legem". Die Kirche hat inzwischen gelernt, die ihr anvertraute Wahrheit als eine Sache zu begreifen, die ihrem Wesen nach nur in freier Zustimmung ergriffen werden kann und deren Verkündigung deshalb den öffentlichen Frieden nicht gefährden muß. Aber das ändert nichts am Absolutheitsanspruch dieser Verkündigung. Den religiösen Liberalismus kann die Kirche nach wie vor nur als Gegner sehen, so wie ihn John Henry Newman sah. Nur unter dieser Voraussetzung kann das Christentum Ferment der europäischen Kultur bleiben oder wieder werden. Denn Relativismus und Skeptizismus sind nicht nur der spirituelle Tod der Seele, sondern auch der jeder vitalen Kultur. Vor allem aber der europäischen. Denn Europa kann seinen Mythos nicht als regionale Besonderheit relativieren, ohne ihn ganz aufzugeben. Christus ist entweder wirklich von einer Jungfrau geboren und von den Toten auferstanden, oder er ist es nicht. Tertium non datur. Weil sie auf die Wahrheit bezogen ist, ist die christliche Kultur Europas wesentlich universalistisch und deshalb hinsichtlich ihres Glaubenskerns missionarisch. Am cor curvatum in se ipsum eines Eurozentrismus, der sich selbst relativiert, müßte die europäische Kultur sterben. (Fs) (notabene)

13 Die Vergegenwärtigung des Mythos geschieht nicht durch anonyme Medien, sondern erstens durch Erzählung von Mund zu Mund realer Menschen, zweitens aber und vor allem durch den Kult. Lex orandi lex credendi. Das sacrum commercium von göttlicher und menschlicher Wirklichkeit findet in ritueller Feier statt. "Laß uns durch das Mysterium dieses Wassers und Weines teilnehmen an der Gottheit dessen, der sich herabgelassen hat, unsere Menschennatur anzunehmen", so betet die katholische Kirche täglich in ihrer alten römischen Meßliturgie. (Es ist unbegreiflich, daß gerade dieser Text durch die Liturgiereform beseitigt wurde.)

[...]
17 Der rituelle Kult ist im Christentum Symbol für das ethische Leben des Christen als "innerer Kult", und die Transsubstantiation der innerste Ausgangspunkt der Transzendierung und Humanisierung der Natur. Darauf aber beruht wiederum alle Kultur. Das sacrum commercium von göttlicher und menschlicher Welt hat sein Analogon im sacrum commercium von Geist und Natur im Menschen selbst. Die moderne szientistische Zivilisation stellt, Descartes folgend, res cogitans und res extensa einander gegenüber. Es gibt einerseits ein abstraktes Subjekt, genannt "die Wissenschaft", und andererseits die gesamte natürliche Welt, die zum bloßen Objekt dieser Wissenschaft herabgesetzt wird. Wo aber der Geist keine natürliche Dimension und die Natur keine spirituelle hat, da kann von Kultur nicht mehr die Rede sein. Cultura heißt ursprünglich Ackerbau, also Veredelung der Natur. Die szientistische Zivilisation hat eine Tendenz sowohl zum Spiritualismus wie zum Materialismus, die beide kulturfeindlich sind. Der Kampf der katholischen Kirche für eine spirituelle Auffassung der menschlichen Natur und eine natürliche Auffassung menschlicher Personalität wirkt dieser Dekomposition entgegen und ist der wichtigste praktische Beitrag des Christentums zur Bewahrung einer humanen Kultur. Dieser Widerstand kommt zum Ausdruck ebenso im Kampf gegen Abtreibung wie gegen Euthanasie, Kontrazeption und In-vitro-fertilisation. Die Einheit von Natur und Personalität in einem lebendigen Menschen hat ja ihren Anfang in der Einheit von geschlechtlicher Vereinigung und Zeugung. Der Widerstand gegen die artifizielle Trennung beider, der Widerstand gegen die Herstellung von Menschen in der Retorte gründet im "genitum non factum", das für jeden Menschen gelten muß. Leider muß die Kirche bei diesem Widerstand weitgehend auf die Hilfe derer verzichten, die dazu berufen sind, den Sinn dieses Widerstands zu vermitteln und zu interpretieren. Katholische Akademien in meinem Land, die von Gläubigen bezahlt, aber von Bischöfen kontrolliert werden, stellen ihren Apparat in den Dienst der Propaganda gegen die diesbezügliche Lehre der Kirche. Und wenn die Bischöfe dazu schweigen, wird das naturgemäß von den Gläubigen nach der Regel interpretiert: "qui tacet consentire videtur". (Fs)

18 Was heute vielen Menschen als borniertes Festhalten der Kirche an traditionellen Verhaltensmustern erscheint, muß in einem neuen Lichte gesehen werden: als Widerstand gegen das, was C.S. Lewis "die Abschaffung des Menschen", die "abolition of man" genannt hat. Die szientistische Zivilisation mit ihrer Tendenz zum Spiritualismus und Materialismus, zur Dekomposition der menschlichen Natur ist die Tendenz zu dieser Abschaffung. Wenn Europa nicht die kostbare Perle wiederfindet, die seine Mitte war, wird es zum Ort, von dem die Abschaffung des Menschen auf diesem Planeten ausgeht. (E07 29.11.2007)

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