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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Internet

Titel: Die europäische Kultur und der banale Nihilismus oder: Die Einheit von Mythos, Kult und Ethos

Stichwort: Antiutopie, banaler Nihilismus - Liberalismus; Richard Rorty; Nietzsche: der letzte Mensch

Kurzinhalt: Die Utopie ist inzwischen tot; Nietzsche hat diesen banalen Nihilismus bereits vor 100 Jahren hellsichtig im voraus charakterisiert ... Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht ...

Textausschnitt: 6 Die Utopie ist inzwischen tot. Toter als es Gott je war. Es hat sich gezeigt, daß die Organisation der Gesellschaft im Dienst der Utopie materielle Verbesserungen eher behinderte als beförderte. Was bleibt aber, wenn der Religionsersatz sich als Illusion erwiesen hat? Natürlich legt sich die Rückkehr vom Ersatz zum Original nahe. Aber die Rückkehr zu Gott geschieht nie automatisch. Sie ist immer nur die Folge eines Aufbruchs eines jeden Menschen. Zu diesem Aufbruch gibt es immer eine Alternative. Wie sieht heute die Alternative aus? An die Stelle der Utopie als Religionsersatz tritt heute eine radikale Antiutopie, die dem Gedanken der Transzendenz des Menschen in jeder Weise absagt. Ein angesehener amerikanischer Philosoph der Gegenwart, Richard Rorty, hat unlängst die Antiutopie entworfen. Es handelt sich um das Wunschbild einer liberalen Gesellschaft, in der alle kognitiven, ethischen und religiösen Absolutheitsansprüche verschwunden sind und in der "nichts für wirklicher gehalten wird als Lust und Schmerz". Alles, worum es dem Menschen geht, alles, womit es ihm ernst ist, ist Illusion. Es soll uns mit nichts mehr ernst sein. Das höchste Resultat der Bildung ist Ironie. Im übrigen wollen wir uns wohlfühlen, das ist alles. An die Stelle des heroischen Nihilismus tritt das, was ich den "banalen Nihilismus" nennen möchte. (Fs) (notabene)

Kommentar (28.11.07): Diese Diagnose trifft sich in etwa mit Murreys Analyse des Atheisten des Theaters.

7 Nietzsche hat diesen banalen Nihilismus bereits vor 100 Jahren hellsichtig im voraus charakterisiert. Er sprach in diesem Zusammenhang von dem letzten Menschen". "'Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?' - so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht... 'Wir haben das Glück erfunden', sagen die letzten Menschen und blinzeln. Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbarn und reibt sich an ihm. Denn man braucht Wärme... Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt zu einem angenehmen Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, daß die Unterhaltung nicht angreife. Man wird nicht mehr arm und reich: beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und keine Herde. Jeder will das gleiche. Jeder ist gleich. Wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus... Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. 'Wir haben das Glück erfunden', sagen die letzten Menschen und blinzeln." (Fs) (notabene)

8 Der letzte Mensch Nietzsches: das ist die Verkörperung des banalen Nihilismus. Er nennt sich heute selbst "Liberalismus" und hat für alles, was sich ihm nicht fügt, die Einschüchtervokabel "Fundamentalismus" bereit. Ein Fundamentalist ist in diesem Sinne jeder, dem es mit irgend etwas ernst ist, das für ihn nicht zur Disposition steht. Für den banalen Liberalismus ist Freiheit: Vermehrung von Optionschancen. Er läßt aber keine Option gelten, für die es sich lohnte, auf alle übrigen zu verzichten. Von einer solchen Option aber spricht das Evangelium: von dem Schatz im Acker und der kostbaren Perle, für die der, der sie findet, alles verkauft. (Fs) (notabene)

9 Dieser Schatz war es, der der europäischen Kultur ihre vitale Mitte gab. Diejenigen, die für diesen Schatz wirklich alles verkauften, waren die Heiligen. Das christliche Europa bestand nicht überwiegend aus Heiligen. Im Gegenteil. Aber es existierte so lange, als es nicht daran zweifelte, daß die Heiligen den besten Teil erwählt hatten. Sie waren es, die die letztlich geltenden Wertmaßstäbe repräsentierten. Wenn Europa diesen Schatz verliert, bleibt ihm nur noch der banale Nihilismus, also das Ende jeder Kultur, die diesen Namen verdient. (Fs)

10 Wenn es deshalb in Gottes Plan liegen sollte, die Kirche in Europa noch einmal zur kulturell prägenden Kraft werden zu lassen, dann nur, wenn sie als Heimat derer sichtbar wird, die der Banalität überdrüssig sind, also als das wirklich Andere, als wirkliche Alternative zur Zivilisation der Banalität und das heißt: als Kirche der Heiligen. Die christliche Erneuerung Europas wird nicht von Symposien und Kongressen ausgehen, nicht von Planungsbüros, Katholischen Akademien und Theologischen Fakultäten und auch nicht von kirchlichen Institutionen sozialpädagogischer Art, die vielfach längst gar nicht mehr genügend gläubige Christen haben, um aus authentisch christlichem Geist zu arbeiten. Eine an den Geist der Zeit angepaßte Kirche wird in Zukunft immer weniger interessieren. Den großen christlichen Aufbrüchen gingen stets Epochen des Rückzugs, der Distanznahme und der Rückbesinnung voraus. Ohne den Rückzug des heiligen Benedikt in die Einsamkeit von Subiaco wäre dieser Heilige nicht Patron Europas geworden. Und noch der renouveau catholique, die scharenweise Hinwendung von Intellektuellen und Künstlern zur Kirche am Anfang des 20. Jahrhunderts war nicht eine Frucht des Aufklärungskatholizismus des 18. Jahrhunderts, sondern ihr ging voraus die Kampfansage des "Syllabus" des Pius IX. an den religiösen Liberalismus im 19. Jahrhundert, durch den die Kirche zeitweise in eine Art Ghetto geriet. Als Ausgangsposition für christliche Mission ist aber die zeitweise Verbannung ins sogenannte Ghetto offensichtlich günstiger als die Anpassung an den Zeitgeist, durch die das Salz allmählich schal wird. (Fs)

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