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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Internet

Titel: Die europäische Kultur und der banale Nihilismus oder: Die Einheit von Mythos, Kult und Ethos

Stichwort: Natur des Menschen, Selbsttranszendenz, cor curvatum in se ipsum (Augustinus); Nietzsche, Übermensch, Utopie; Fest - Freizeit

Kurzinhalt: Die Natur des Menschen, seine Menschlichkeit macht sich nicht "von Natur", nicht von selbst

Textausschnitt: 1 Die Natur des Menschen, seine Menschlichkeit macht sich nicht "von Natur", nicht von selbst. Menschen müssen, wie wir im Deutschen sagen, ihr "Leben führen". Sie müssen, um Menschen zu sein, ihrem Leben eine Gestalt geben. Das gelingt nur, wenn das Leben einen Inhalt hat, der über die bloße Selbsterhaltung und die Reproduktion der Gattung hinausgeht. Einen Inhalt, der den Menschen übersteigt. Der Mensch ist das Wesen der Selbsttranszendenz. Er braucht etwas, wofür es sich zu leben lohnt. Das cor curvatum in se ipsum, von dem der heilige Augustinus spricht, das Herz, dem es nur noch um sich selbst geht, ist nicht mehr im eigentlichen Sinne menschlich. Was wir Kultur nennen, ist die Prägung des Lebens einer Gemeinschaft durch solche Inhalte, die das Leben strukturieren und ihm einen Sinn geben. (Fs) (notabene)

2 All diese Inhalte sind letzten Endes relativ. Den einzig adäquaten Gegenstand menschlicher Selbsttranszendenz nennen wir Gott. Friedrich Nietzsche hielt die christliche Idee der Gottesliebe für die höchste Idee der bisherigen Menschheit, weil sie den Menschen lehrte, sich auf etwas zu richten, das größer ist als der Mensch und weil so der Mensch über sich selbst hinauszuwachsen lernte. Nur dadurch wird der Mensch im eigentlichen Sinne menschlich. In diesem Sinne schrieb Andrej Sinjawski aus dem Zustand tiefster Erniedrigung im sibirischen GULAG: "Wir haben uns lange genug Gedanken über den Menschen gemacht. Es wird Zeit, an Gott zu denken!" (Fs)

3 Nietzsche hielt Gott für tot, und um die Lücke zu füllen, erfand er als funktionales Äquivalent der Gottesidee den Übermenschen. Die Utopie des Übermenschen war, wie alle Utopien der Neuzeit, Religionsersatz. Die Utopien sollten, wie Feuerbach und Marx sagten, dasjenige auf die künftige Erde zurückholen, was die Menschen bisher in den Himmel projiziert hatten. Der Sinn menschlichen Handelns sollte letzten Endes aus der irdischen Zukunft der Menschheit gewonnen werden. Nicht der Mensch "wie er geht und steht" ist für Marx verehrungswürdig, sondern nur der Mensch der Zukunft. Aber warum soll dieser Mensch besser sein, bloß weil es ihm besser geht? Zukunft wurde Opium des Volkes. Die Utopien projizierten freilich nur einen schwachen Abglanz dessen, was für den Gläubigen lebendige Gegenwart ist, in eine unbestimmte irdische Zukunft. Gott ist lebendige Gegenwart. Und die künftige Welt Gottes warf in christlichen Zeiten ihren Glanz vielfältig auf das tägliche Leben der Menschen voraus - nicht nur an Weihnachten und Ostern und nicht nur sonntags, obgleich an diesen Tagen besonders. (Fs) (notabene)

4 Dieser Glanz durchdrang das oft genug dürftige reale Leben der Menschen und entriß es der Banalität. Er machte auch die Armut zu "edler Armut", wie Johannes XXIII. im Blick auf seine Kindheit sagte. Die Gegenwart der göttlichen Welt in der menschlichen bedeutet auch, daß die Arbeit, daß alles, was gut und schön getan wird, nicht nur durch seinen späteren Nutzen gerechtfertigt ist, sondern hier und jetzt seinen Sinn hat, weil es, wie es in der Bibel heißt, "in Gott getan ist". Das aber macht Feste ebenso wie Arbeit zu Elementen menschlicher Kultur, wobei die Feste den Vorrang haben. Sie vergegenwärtigen immer wieder den präsenten Sinn des Ganzen. (Fs)

5 Die neuzeitliche Utopie ersetzte die Erwartung unsterblichen göttlichen Lebens für jeden, der sich danach ausstreckt, durch die Perspektive verbesserter irdischer Lebensbedingungen später lebender Menschen. Dazu bedurfte es der Verwandlung der Gesellschaft in eine zweckrationale Organisation, die diese Verbesserungen herbeiführen sollte. Das gegenwärtige Leben hat, auch wenn es schön und richtig gelebt wird, nicht mehr einen Ewigkeitssinn in sich selbst. Kultur existiert eigentlich noch gar nicht, sondern sie soll das künftige Ergebnis gegenwärtiger Arbeit sein. Es gibt auch nicht wirklich etwas zu feiern. An die Stelle des Festes tritt die Freizeit. Wieso allerdings die Verbesserung des Lebens künftiger Generationen dieses Leben der Banalität sollte entreißen können, kann die Utopie nicht einsichtig machen. (Fs)

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