Datenbank/Lektüre


Autor: Cantalamessa, Raniero

Buch: Als neuer Mensch leben

Titel: Als neuer Mensch leben

Stichwort: Selbstbeherrschung (Bibel - Stoa, Stoiker); enkrateia - porneia; apatheia; Selbstbeherrschung - Nicht-Selbstbeherrschung; christologische und pneumatologische Begründung

Kurzinhalt: Die Grundvorstellung, die der Begriff porneia beinhaltet, ist jedoch die, »sich zu verkaufen«, ... Indem die Bibel diesen Begriff verwendet, ... Grund, weil wir nicht mehr uns selbst gehören, sondern Christus

Textausschnitt: 1. Die christliche Motivation für die Reinheit

282b Im Brief an die Galater schreibt der hl. Paulus:

»Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung« (Gal 5,22). (Fs)

282c Der originale griechische Terminus, den wir mit »Selbstbeherrschung« übersetzen, ist enkrateia. Er hat eine sehr weit gespannte Bedeutungspalette: Man kann nämlich Selbstbeherrschung üben im Essen, im Sprechen, indem man seinen Zorn zügelt und in anderem mehr. Hier jedoch - wie übrigens fast immer im Neuen Testament - steht der Begriff für die Selbstbeherrschung in einem ganz bestimmten Bereich des Menschen, nämlich auf dem Gebiet der Sexualität. Das entnehmen wir der Tatsache, daß der Apostel etwas weiter oben, als er die »Werke des Fleisches« aufzählt, das Gegenteil der Selbstbeherrschung mit porneia, also mit Unreinheit, bezeichnet. (Es ist derselbe Begriff, von dem unser Wort »Pornographie« abgeleitet ist!)

283a Wir haben damit also zwei Schlüsselbegriffe, um die Realität zu verstehen, über die wir sprechen wollen: einen positiven (enkrateia) und einen negativen (porneia). Der eine beschreibt uns die Sache selbst und der andere ihr Fehlen oder ihr Gegenteil. Nun, ich sagte, daß der Begriff enkrateia wörtlich Selbstbeherrschung bedeutet, die Beherrschung des eigenen Körpers und speziell der eigenen sexuellen Triebe. Was aber bedeutet porneia? In den modernen Bibel-Übersetzungen wird dieser Begriff mit Prostitution, mit Schamlosigkeit, mit Unzucht, mit Ehebruch oder mit anderen Wörtern wiedergegeben. Die Grundvorstellung, die der Begriff porneia beinhaltet, ist jedoch die, »sich zu verkaufen«, den eigenen Körper zu veräußern, also sich der Prostitution hinzugeben (pernemi bedeutet »ich verkaufe mich«). Indem die Bibel diesen Begriff verwendet, um nahezu alle Manifestationen sexueller Unordnung zu bezeichnen, gibt sie zu verstehen, daß jede Sünde der Unreinheit in gewissem Sinne eine Prostitution, ein Sich-Verkaufen ist. (Fs) (notabene)

283b Die von Paulus verwendeten Begriffe sagen uns also, daß gegenüber dem eigenen Körper und der eigenen Sexualität zwei entgegengesetzte Verhaltensweisen möglich sind, die eine ist Frucht des Geistes, die andere Werk des Fleisches, die eine Tugend, die andere Laster. Die erste besteht darin, die Selbstbeherrschung und die Beherrschung des eigenen Körpers zu wahren; die andere hingegen bedeutet, den eigenen Körper zu verkaufen oder zu veräußern, d. h. über die Sexualität nach eigenem Gutdünken zu verfügen, unter Gesichtspunkten der Nützlichkeit und zu anderen Zwecken als denen, für die sie geschaffen ist; aus dem Sexualakt ein Geschäft zu machen, auch wenn der »Gewinn« nicht immer in barer Münze besteht wie im Fall der Prostitution im eigentlichen Sinne, sondern auch im egoistischen Lustgewinn als Selbstzweck. (Fs)

284a Wenn von der Reinheit und der Unreinheit in einfachen Tugend- oder Lasterkatalogen die Rede ist, ohne daß die Materie weiter vertieft wird, unterscheidet sich der Sprachgebrauch des Neuen Testaments nicht wesentlich von dem der heidnischen Moralisten, z. B. der Stoiker. Auch bei ihnen waren die beiden Begriffe, die wir bisher betrachtet haben - nämlich enkrateia und porneia, Selbstbeherrschung und Unreinheit - allgemein gebräuchlich. Wer einzig bei diesen Begriffen stehenbliebe, würde deshalb nichts spezifisch Biblisches und Christliches wahrnehmen. Auch die heidnischen Moralisten priesen die Selbstbeherrschung, aber nur als Mittel zur Erlangung der inneren Ruhe und Gelassenheit, des Gleichmuts (apatheia) und der Unabhängigkeit von allem Äußeren. Die Reinheit war bei ihnen dem Prinzip der »rechten Vernunft« untergeordnet. In Wirklichkeit liegt in diesen alten heidnischen Wörtern jedoch bereits ein völlig neuer Gehalt, der -wie immer - aus dem Kerygma hervorgeht. Das wird schon in unserem Text sichtbar, wo der sexuellen Ausschweifung als deren Gegensatz bezeichnenderweise das »Sich-Bekleiden mit dem Herrn Jesus Christus« gegenübergestellt wird. Die ersten Christen waren imstande, diesen neuen Gehalt zu erfassen, denn er war Thema besonderer Katechesen in anderen Zusammenhängen. (Fs)

284b Untersuchen wir nun eine dieser Sonderkatechesen über die Reinheit, um den wahren Gehalt und die wahren christlichen Motive dieser Tugend zu entdecken, die sich aus dem Pascha-Geschehen Christi herleiten. Es handelt sich um den Text in 1 Korinther 6,12-20. Anscheinend hatten die Korinther - möglicherweise indem sie einen Satz des Apostels verdrehten - das Prinzip: »Alles ist mir erlaubt« angeführt, um sogar die Sünden der Unreinheit zu rechtfertigen. In der Antwort des Apostels ist eine völlig neue Begründung der Reinheit enthalten, die aus dem Mysterium Christi hervorgeht. Es ist nicht erlaubt - sagt er -, sich der Unzucht hinzugeben, es ist nicht erlaubt, sich zu verkaufen oder zum eigenen Vergnügen über sich zu verfügen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil wir nicht mehr uns selbst gehören, sondern Christus. Man kann nicht über etwas verfugen, das einem nicht gehört:

»Wißt ihr nicht, daß eure Leiber Glieder Christi sind? ... Ihr gehört nicht euch selbst!« (1 Kor 6,15.19). (Fs)

285a Die heidnische Begründung ist in gewissem Sinne auf den Kopf gestellt: Der höchste zu hütende Wert ist nicht mehr die Selbstbeherrschung, sondern die »Nicht-Selbst-Beherrschung«. »Der Leib ist nicht für die Unzucht da, sondern für den Herrn!« (1 Kor 6,13). Die letzte Begründung für die Reinheit ist also: »Jesus ist der Herr!« Mit anderen Worten, die christliche Reinheit besteht weniger darin, die Herrschaft der Vernunft über die Triebe herzustellen, als vielmehr die Herrschaft Christi über den gesamten Menschen - Vernunft und Triebe - zu festigen. Das Wichtigste ist nicht, daß ich die Herrschaft über mich selbst habe, sondern daß Jesus die Herrschaft über mich hat. Zwischen diesen beiden Perspektiven liegt ein nahezu unendlicher Qualitätssprung. Im ersten Fall ist die Reinheit in ihrer Funktion auf mich ausgerichtet, der Endzweck bin ich; im zweiten Fall ist sie auf Jesus ausgerichtet, Jesus ist das Ziel. Es ist zwar nötig, die Selbstbeherrschung zu erringen, aber nur, um sie dann an Christus abzutreten. Diese christologische Begründung der Reinheit wird noch zwingender durch das, was Paulus in demselben Text hinzufügt: Wir »gehören« Christus nicht nur ganz generell, als sein Eigentum, als etwas, das er besitzt, sondern wir sind der Leib Christi selbst, sind seine Glieder! Das macht alles noch ungeheuer viel heikler, denn es besagt, daß ich, wenn ich eine unreine Handlung begehe, den Leib Christi prostituiere, eine Art abscheuliches Sakrileg begehe; ich »vergewaltige« den Leib des Sohnes Gottes. Der Apostel sagt:
»Darf ich nun die Glieder Christi nehmen und zu Gliedern einer Dirne machen?« (1 Kor 6,15). (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt