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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Zusammenfassung: Naturgesetz, lex naturalis; Stoa

Kurzinhalt: Die Vernunft besitzt demnach bezüglich aller von der Vernunft unterscheidbaren "Natur" Telos-Charakter; ihre praktische Tätigkeit kann keinesfalls darauf reduziert werden, natürliche Neigungen in sittliche Gebote "umzuformulieren"

Textausschnitt: 1. Das Naturgesetz, wie es in seinen grundlegenden Strukturlinien dargestellt wurde, ist Ausdruck personaler Autonomie. Diese Autonomie umschließt eine Reihe von grundlegenden Elementen, deren organische Einheit letztlich darauf beruht, daß die menschliche Person ein nach dem Ebenbild Gottes (ad imaginem Dei) geschaffenes Lebewesen, ein freies und geistbeseeltes Wesen der Körperwelt ist, das in seinem Erkennen und Streben das ewige Gesetz partizipiert und auf Gott hin angelegt ist, die "sichtbare", körperliche Welt also zugleich auch transzendiert. Das Naturgesetz ist nicht ein gewöhnliches "Naturphänomen", denn es besitzt nicht eine "naturale", sondern eine personale Struktur, die menschlichem Person-Sein entspricht. Person-Sein ist in der durch die natürliche Vernunft kognitiv und operativ vermittelten Einheit des Suppositums selbst eine besondere, ausgezeichnete, weil rational durchformte, Art von "Natürlichkeit", in deren Konstituierung die Vernunft als ratio naturalis eine maßstäbliche Ordnungsfunktion ausübt. Sich zur Begründung moralischer Normativität auf die Natur beziehen oder "naturrechtlich" argumentieren heißt immer, an diese der vernünftig-personalen Struktur des Naturgesetzes entsprechend geprägte Natur zu appellieren, an eine "natürliche Ordnung" also, die sich in der Reflexion über die spontane, teils intuitive und vorwissenschaftliche, aber auch von persönlichen Dispositionen (sittlichen Tugenden) abhängende sittliche Erfahrung als ordo rationis zeigt. (Fs) (notabene)

406c Das Naturgesetz ist demnach weder mit der "natürlichen Ordnung" im rein metaphysischen Sinne noch mit der (Vernunft-)Natur des Menschen zu identifizieren. Das natürliche Gesetz ist vielmehr ein Gesetz der praktischen Vernunft, d. h. eine ordinatio der praktischen Vernunft als natürliche Vernunft, welche die den natürlichen Neigungen gemäßen Akte auf das dem Menschen als Person eigene Ziel hinordnet. Damit ist nicht gemeint, das Naturgesetz könne nur insofern es als Präzept auftritt, "Gesetz der praktischen Vernunft" genannt werden, ansonsten (in inhaltlicher Hinsicht) verleihe jedoch die praktische Vernunft lediglich der "Stimme" einer ihr gegenständlichen Naturordnung Gehör. Die praktische Vernunft konstituiert nicht einfach nur die "ratio praecepti", formt also nicht einfach natürliche Neigungen oder Aktgefüge in sittliche Gebote um; vielmehr besitzt die menschliche Vernunft auch in ihrer praktischen Wirkweise eine axiologische Eigenkonsistenz und konstituiert deshalb das sittliche Sollen (den ordo ad finem) auch in inhaltlicher Hinsicht. Sie tut dies jedoch nicht in "schöpferischer" Weise: Auch praktische Erkenntnis ist immer Erkenntnis und als solche konstituiert sie zwar in einem ordinativen Akt das sittliche Sollen, ohne jedoch in schöpferischer (oder "eigenkompetenter") Weise die Wahrheit dieses Sollens zu konstituieren. Genauer gesagt: Sie konstituiert zwar (kognitiv) diese Wahrheit, aber nicht in einer Weise, die einer Verfügbarkeit über diese Wahrheit entspricht, sondern partizipativ. Denn die ordinatio der praktischen Vernunft, die Naturgesetz heißt, ist eine "Partizipation des ewigen Gesetzes im vernünftigen Geschöpf". (Fs) (notabene)

407a Im Naturgesetz entfaltet sich somit im Kontext der Autonomie der sittlichen Erfahrung des Subjektes das ewige Gesetz. Das Naturgesetz ist nicht "abbildhafter" Reflex einer "Naturordnung", sondern praktisch-kognitiver Mitvollzug der ordinatio des ewigen Gesetzes, welches in Bezug auf jede Ordnung, die insofern nur "Natur" ist, als sie von "Vernunft" unterschieden werden kann, selbst ordnende Funktion besitzt. (Fs)

407b Während dem stoischen Modell des Naturgesetzes die Identität von physis und logos zugrundeliegt, die Vernunft hier also als der Natur immanent und deshalb als normativ angesehen und der diese natürliche Ordnung des Kosmos durchwaltende logos mit dem "ewigen Gesetz" identifiziert wird (eine Auffassung, die schließlich zu einem formell zirkulären Begriff des "Naturgemäßen" als "Vernunftgemäßen", und umgekehrt, führt), so ist bei Thomas die sittlich maßgebende Vernunft nicht "logos" (Strukturprinzip) einer natürlichen Ordnung, sondern eine bezüglich des nur Natürlichen ordnende Kraft, die den logos eines transzendenten ewigen Gesetzes, wie es im Geist des Schöpfers besteht, zum Durchbruch bringt. Die menschliche Vernunft ist nicht ein die kosmische Ordnung konzentriert widerspiegelnder "Mikrokosmos", sondern in ihr findet sich die imago des göttlichen Geistes, deren Wahrheitsmächtigkeit und ordnende Kraft sie partizipiert und wirksam werden läßt. Die praktische Vernunft ist demnach als natürliche Vernunft ein kognitives Prinzip, das aller übrigen Natur voraus ist und sie transzendiert; das aber zugleich, als geschaffene Vernunft und einer geistigen Seele entspringend, die substantielle Form eines Körpers ist, ebenfalls Natur ist. So hat es Thomas, wie wir sahen, am deutlichsten in seinem Kommentar zum Johannesevangelium zum Ausdruck gebracht: Der Mensch ist "secundum intellectualem naturam, quae est ab extrinseco ... a Deo per creationem" (siehe oben II, 4.1.5). Die Vernunft besitzt demnach bezüglich aller von der Vernunft unterscheidbaren "Natur" Telos-Charakter; ihre praktische Tätigkeit kann keinesfalls darauf reduziert werden, natürliche Neigungen in sittliche Gebote "umzuformulieren". Wenn sie auch auf diese natürlichen Neigungen in konstitutiver Weise angewiesen ist, um überhaupt erkennen zu können und praktisch-wahre Präzepte für das menschliche Handeln zu etablieren (denn der Mensch ist ebenso sein Körper wie er Geist ist, Dualität heißt nicht Dualismus!), so besitzt sie dennoch bezüglich dieser Neigungen eine eigene axiologische Konsistenz und damit eine ordnende Aufgabe. Diese von der praktischen Vernunft in den natürlichen Neigungen geschaffene Ordnung ist die Ordnung der Tugend, in welcher sich die Integrität der Person in ihrer operativen Vollkommenheit offenbart. (Fs)

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