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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: 1a2ae q. 94; Non est eadem rectitudo apud omnes; ut in pluribus; Gebote - Ausname; deposita sunt reddenda

Kurzinhalt: Begreift Thomas diesen "defectus" (das Versagen), der sich in einigen Fällen einstellt, als eine "Ausnahme" vom Gebot?

Textausschnitt: 378c Im vierten Artikel von I-II, q. 94 stellt sich Thomas die Frage, "utrum lex naturae sit una apud omnes", ob das Naturgesetz für alle Menschen ein und dasselbe sei. Es geht Thomas natürlich darum, diese Frage zu bejahen, und gerade deshalb werden im Corpus des Artikels zwei Phänomene analysiert, die scheinbar das Gegenteil besagen: Erstens die Tatsache, daß es unter Umständen unvernünftig und geradezu ungeboten ist, bestimmte Präzepte des Naturgesetzes auf der Ebene der "principia propria" oder "praecepta secundaria" einzuhalten; so z. B. das Gebot der Gerechtigkeit, "Hinterlegtes muß man zurückerstatten" ("deposita sunt reddenda"); solche Gebote verpflichten deshalb nur "ut in pluribus", in der Mehrzahl der Fälle und bewirken demnach eine scheinbare Variabilität des Naturgesetzes: Was in einem konkreten Fall gilt, gilt unter Umständen nicht für alle Fälle, sondern nur in den meisten. Zweitens spricht Thomas auch von einer nicht-identischen "rectitudo" des Naturgesetzes aufgrund einer mangelnden, d. h. verderbten Kenntnis ("notitia depravata") desselben, wegen der Leidenschaften, schlechten Gewohnheiten oder Naturanlagen. "So wie unter den Germanen, wie Julius Cäsar in seinem 'De bello Gallico' berichtet, einst die Räuberei nicht als Unrecht galt, obwohl sie ausdrücklich gegen das Naturgesetz verstößt".1 (Fs)

[...]

380b Die wichtigsten Aussagen im genannten Artikel 4 von I-II, q.94 sind die folgenden: Die praktische Vernunft schreitet, wie auch die spekulative, vom Allgemeinen zum Besonderen (ex communibus ad propria). Im Unterschied zur theoretischen bezieht sich die praktische Vernunft jedoch auf menschliche Handlungen, und das heißt immer auf Kontingentes, auf eine Materie, die nicht aus Naturnotwendigkeit immer gleich ist, sondern sich "auch anders verhalten kann".1 Je mehr man zum Besonderen hinabsteigt, umso mehr findet man das Moment der Defizienz (defectus)2; d. h. das Phänomen, daß die Handlungsmaterie sich verändert, bzw. nicht mehr mit jener Materie identisch ist aufgrund derer das allgemeine Prinzip formuliert wurde. Im angeführten Beispiel: Es scheint, daß aufgrund der konkreten Umstände das Prinzip "deposita sunt reddenda" der vorliegenden Situation nicht mehr angemessen ist. Deshalb ist "secundum rectitudinem" das Naturgesetz nur bezüglich der "principia communia" dasselbe; aber bezüglich einiger partikularer Prinzipien (secundum quaedam propria), die sich wie Konklusionen zu den allgemeinen Prinzipien verhalten, existiert lediglich eine "rectitudo ut in pluribus"; "in paucioribus" jedoch können sie auch versagen (potest deficere), und zwar "wegen einigen partikularen Hinderungsgründen" (propter aliqua particularia impedimenta).3 (Fs) (notabene)

380c Aus dem Text geht hervor, daß Thomas annimmt, dieses Phänomen finde sich nur bei einigen "propria"; man kann es also nicht ohne weiteres prinzipiell auf alle "principia propria" anwenden. Das lassen wir vorderhand dahingestellt. Ein Zweites ist interessanter: Begreift Thomas diesen "defectus" (das Versagen), der sich in einigen Fällen einstellt, als eine "Ausnahme" vom Gebot? Meint er also, daß in bestimmten Fällen ein Gebot nicht "gilt" oder nicht "verpflichtet"? Oder besteht seine Ansicht vielmehr darin, daß die Formulierung des Gebotes bestimmten Situationen nicht adäquat ist? Bzw., daß es Handlungsweisen gibt, die beim Auftreten bestimmter Umstände ihren objektiven Sinngehalt dermaßen verändern, daß sie nicht mehr unter das betreffende Gebot fallen, dieses also gar nicht mehr zum Ausdruck bringen kann, was in dieser Situation getan werden muß?

381a [...] Der Grund für die (nur scheinbare) "Ausnahme" liegt also nicht im Gebot, das hier nicht mehr "gelten" würde, weil es zu "allgemein" oder zu "abstrakt" ist und den Einzelfall nicht zu erfassen vermag. Sondern umgekehrt, in einem "defectus" der Handlungsmaterie, einem "impedimentum", das bewirkt, das die Ordnung der Gerechtigkeit auf die Weise, wie es diesem Gebot des Naturgesetzes entspricht, nicht mehr gewahrt werden kann. (Fs)

381b Der "Defekt" oder die Veränderung der "rectitudo" scheint also seinen Ursprung nicht im Gebot zu haben, sondern vielmehr in der "Materie", auf welche sich das Gebot beziehen sollte. Man könnte sagen: Die vorliegende Situation - der Ehemann, der sein ausgeliehenes Gewehr zurückverlangt, weil er sich an seiner Frau rächen will - diese Situation ist keine "materia debita" mehr, um durch das Gebot "deposita sunt reddenda" geregelt zu werden; eine "redditio depositi" wäre in diesem Fall kein Akt der Gerechtigkeit, sondern Beihilfe zum Mord. (Fs)

381c Vorderhand kommen wir zum Schluß: Während die "praecepta communia" in allen Fällen anwendbar sind (z. B. "man muß die Ordnung der Gerechtigkeit wahren"), so gilt das nicht für alle "principia propria", welche Konkretisierungen des allgemeinen Gebotes bezüglich bestimmter menschlicher Handlungsweisen darstellen. Und es gilt nicht, weil sich, was "in paucioribus" geschehen kann, die in der Formulierung dieses Gebotes unterstellten moralisch ausschlaggebenden Bedingungen verändert haben. (Fs)

381d Es handelt sich dabei um Bedingungen bezüglich einer in dieser Handlung implizierten Person. Das Prinzip "deposita sunt reddenda" unterstellt, daß der Entleiher der rechtmäßige Eigentümer [eg: Verleiher] des entliehenen Gegenstandes ist. Die Rechtsbeziehung (Ordnung der Gerechtigkeit) zwischen dem Eigentümer und dem "depositum" konstituiert die sittliche Pflicht der "redditio" des Entliehenen. Sollte sich nun jedoch in der Rechtmäßigkeit des Besitzanspruches etwas ändern, so würde sich auch der Verpflichtungscharakter der "redditio depositi" ändern. Genau das ist in unserem Beispiel der Fall: Die ursprüngliche "rectitudo" der Beziehung Eigentümer-Entliehenes hat sich verändert. Der Besitzanspruch auf ein Jagdgewehr, mit dem man seine eigene Ehefrau erschießen will, entspricht nicht mehr der Ordnung der Gerechtigkeit. Deshalb besteht ein partikulares "impedimentum" für die Anwendung des Prinzips "deposita sunt reddenda" auf diese Situation. Die entsprechende Handlung "fiele" auf eine "materia indebita" und wäre objektiv keine Handlung der Gerechtigkeit mehr. (Fs)

382a Zu I-II, q.94, a.4 gibt es eine aufschlußreiche Parallelstelle, aus der hervorgeht, daß genau dies die Meinung des hl. Thomas ist. Es handelt sich um II-II, q.57, a.2, ad 1: [...]

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