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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Moral - Grenzfall (Grenzfälle, borderline cases); petitio principii: teleologische Ethik; bona fide; Kasuistik; logisch inkonsistent

Kurzinhalt: Man findet einen Fall, in dem das Einhalten eines bestimmten sittlichen Verbotes zu schwerwiegenden oder, wie man gleich hinzufügt: "unmenschlichen" ... Konsequenzen führt. Folglich, so schließt man, ...

Textausschnitt: 362a Damit drängt sich auch eine weitere Bemerkung auf, und zwar über den Mißbrauch mit Grenzfällen, sog. borderline cases: hypothetische, meist konstruierte oder zumindest zurechtgestutzte und die Vielfalt der Randbedingungen und Handlungsalternativen des konkreten Lebens außer Acht lassende Situationen, die oft zum Nachweis dafür verwendet werden, daß gewisse sittliche Verbote oder Gebote eben doch nicht ausnahmslos gelten, weil man einen Fall finden kann, in dem dies zu scheinbar absurden Konsequenzen rühren würde, - wie z. B., den Fall, in dem "einen Unschuldigen nicht zum Tode verurteilen" zur Folge hätte, daß deshalb viele Menschen das Leben verlieren würden. Meiner Ansicht nach handelt es sich jedoch bei solchen Grenzfall- und Randzonendiskussionen (bei F. Scholz und auch B. Schüller geradezu methodologisches Prinzip) weniger um ein analytisch hilfreiches Instrument, als eher um einen dialektischen Kunstgriff, der, genau besehen, zu analytischen Zwecken unbrauchbar ist und nur durch die Zuhilfenahme eines Trugschlußes zu (scheinbaren) Ergebnissen führt. Normalerweise wird dabei folgendermaßen vorgegangen: Man findet einen Fall, in dem das Einhalten eines bestimmten sittlichen Verbotes zu schwerwiegenden oder, wie man gleich hinzufügt: "unmenschlichen" (bei Schüller auch: "katastrophalen", "verheerenden") Konsequenzen führt. Folglich, so schließt man, kann ein absolutes (Natur-)Prohibitiv hier nicht gelten. Daraus wiederum wird gefolgert, daß das Verbot nicht ausnahmslos gilt. Und zuletzt ergibt sich dann: Jede Norm kann prinzipiell in einer konkreten Situation auch nicht gelten; man muß ihre konkrete Geltung hie et nunc vielmehr aufgrund der jeweiligen Handlungsfolgen (durch Güterabwägung, bzw. "teleologisch") bemessen. (Fs) (notabene)

362b Diese Argumentationsstrategie beruht jedoch auf einer petitio principii, einem Zirkelschluß: einer Schlußfigur, die bereits voraussetzt, was eigentlich zu beweisen wäre. Zu beweisen ist hier: "Handlungen können nur aufgrund ihrer Folgen, durch Güterabwägung bzw. ('teleologisch' sittlich beurteilt werden, und nicht aufgrund absoluter, von den konkreten Folgen absehender Kriterien", so daß ausgeschlossen ist: "x-Tun ist unter allen Umständen sittlich schlecht." Gerade dies wurde jedoch bereits stillschweigend vorausgesetzt als man sagte: "In der angegebenen (durch das Grenzfall-Beispiel erläuterten) Situation führt die Einhaltung der als absolut betrachteten Norm zu schwerwiegend-üblen Konsequenzen; folglich kann diese Norm hier nicht gelten". Gerade dieses "folglich" wäre jedoch zu beweisen gewesen; d. h. es wäre zu beweisen gewesen, weshalb "schwerwiegend"-üble Konsequenzen, die sich aus der Befolgung einer bestimmten sittlichen Norm ergeben, überhaupt darüber entscheiden können, daß diese Norm in diesem Falle nicht gilt. Oder (was dasselbe ist): Weshalb die Vermeidung schwerwiegender Konsequenzen durch Nicht-Befolgung einer sittlichen Norm "menschlicher" ist, als die Befolgung einer sittlichen Norm mit der Voraussicht schwerwiegender Konsequenzen. Genau das wird hier jedoch nicht bewiesen, denn die Schlußfolgerung: "Ein Verbot kann nicht absolut gelten (seine Einhaltung kann nicht menschlich sein), wenn sich aus seiner Befolgung schwerwiegende Konsequenzen ergeben" wurde hier bereits als Prämisse vorausgesetzt. Eine Frage wie die folgende: "Wenn eine Mutter das Austragen ihres Kindes voraussichtlich nicht lebend überstehen wird, ist es dann für die Mutter selbst, ihren Ehemann, ihre Familie, ja sogar für das Wohl der Gesellschaft nicht schlicht besser, menschlicher und deshalb sittlich richtig, die Geburt ihres Kindes mit dem Opfer ihres eigenen Lebens zu erkaufen, als die Leibesfrucht zur Vermeidung der auch für die Familie schwerwiegenden Folge des eigenen Todes abzutreiben?" - eine solche Frage wird dann aufgrund der genannten "petitio principii" von vielen Moraltheologen nicht einmal mehr der Erwähnung würdig befunden und schließlich unterschlagen. Solche Fragen darf man jedoch nicht einfach aus dem Wege räumen. Denn in ihnen findet sich einmal mehr die sokratische Grundfrage der Moral impliziert: "Was ist schlimmer: Unrecht erleiden oder Unrecht tun?", d. h. genau jene Frage, deren richtige Beantwortung es ist, die schlußendlich über die Existenz von Menschlichkeit und Unmenschlichkeit in dieser Welt entscheidet. (Fs)

[...]

365a Die intentionalen Bedingungen dafür, daß die Entfernung der Gebärmutter hier als sinnvolle Handlung und zudem - weil indirekt - als erlaubte Tötung erscheint, sind in der vorliegenden Situation nicht gegeben. Deshalb ist es hier auch nicht möglich, eine intentional, bzw. moralisch konsistente Handlungsalternative anzugeben. Man muß sich auch - etwa für die "erleichterte" kasuistische Diskussion des Falles - davor hüten, die Handlungsstruktur "Entfernung des Fötus zwecks Stillung der Blutung" aus dem Gesamtkontext der ursprünglichen intentionalen Handlungsstruktur "Entfernung des Tumors zwecks Heilung der Mutter" herauszulösen; denn dadurch würde man die intentionale Struktur der Situation verfälschen. Aus diesen Gründen scheint mir dieser Fall kasuistisch schlicht undiskutierbar. D. h., rebus sic stantibus ist es nicht möglich, ein normatives Urteil darüber zu fällen, was der Arzt in dieser Situation hätte tun sollen. Das Einzige, was man hier - allerdings nicht-kasuistisch - beurteilen kann, ist die konkrete Handlungsweise des Arztes in dieser Situation (d. h., ohne daß man sie unter eine allgemeine Regel, auch nicht jene der Güterabwägung, zu subsumieren versucht); d. h.: es geht wiederum nicht um die Frage der "Erlaubtheit", sondern um jene der Verantwortlichkeit. Dabei würde ich zu dem Urteil neigen: Die Tötung des Fötus erfolgte hier, aufgrund der intentionalen Struktur der Situation, praeter intentionem; denn der Wille des Handelnden verhält sich hier zum Gegenstand der Handlung "Tötung des Fötus" nicht als wählender Wille, (d. h. ganz anders, als wenn jemand in einer rationalen Entscheidungssituation eine direkte Abtreibung als Mittel zur Lebensrettung der Mutter wählt). Ist allerdings aufgrund gemachter Erfahrung diese Situation voraussehbar und vermeidbar und sollte demselben Arzt das Gleiche wiederholt passieren, dann würde ich für fahrlässige Tötung plädieren (Tötung als "voluntarium in causa"). (Fs)


365b Jedenfalls ist es unsinnig und bloße Verblüffungstaktik, aufgrund solcher Beispiele zu folgern: Es gibt also Fälle, in denen man, um größeres Übel zu vermeiden, einen Unschuldigen direkt töten darf. Dieser Schluß stimmt ganz einfach deshalb nicht, weil der Arzt dies auch in diesem Fall nicht "durfte". Aber es gibt Handlungssituationen, die sich jeglicher Kasuistik und damit auch der Alternative "dürfen oder nicht dürfen" im Sinne der Subsumtion unter eine allgemeine Norm entziehen. Und die Tradition hat das auch berücksichtigt, wenn sie in einem solchen Fall dafür plädierte: Der Arzt hat bona fide gehandelt, weil er in einer rational unentscheidbaren Situation, eine rationale Entscheidung getroffen hat. D. h.: Man kann ihm keinen Vorwurf machen, und dennoch bleibt die Norm, daß man niemals die Tötung eines Unschuldigen als Mittel wählen darf, unangetastet. Aus solchen Situationen hingegen Konsequenzen für die normative Ethik abzuleiten, bedeutet erstens: sich der Pflicht zu einer sauberen Argumentation zu entziehen, zweitens: einen Fehlschluß vom Ausnahme- auf den Normfall vorzunehmen, und drittens: Mißbrauch mit der Kasuistik zu betreiben und zu unterstellen, es gebe für jede Handlungssituation eine kasuistisch eindeutige normative Lösung. Die Kasuistik, man scheint es oft zu vergessen, ist ein Hilfsmittel normativer Beurteilungspraxis und nicht deren Maßstab. (Fs)

365c Die Methode, von Grenzfällen auf (normative) Ausnahmen zu schließen, erscheint mir zudem auch logisch inkonsistent. Denn man kann nicht (erstens) behaupten: Grenzfälle zeigen, daß auch eine für absolut gehaltene Norm Ausnahmen zuläßt; und (zweitens) zugleich dafür halten: Die Möglichkeit solcher Ausnahmen zeigt damit, daß Handlungen aufgrund ihrer Folgen beurteilt werden müssen. Wenn nämlich diese zweite Behauptung gilt, dann kann man auch nicht mehr von "Ausnahmen" sprechen, da diese ja eine allgemeingültige Norm voraussetzen. Diese gibt es jedoch, gemäß der zweiten Behauptung, nicht. Sodaß die zweite Behauptung ihre eigene Voraussetzung (die erste Behauptung), mit der sie jedoch gerade begründet wurde, negiert; ein Syllogismus, dessen Konklusion eine seiner Prämissen aufhebt, muß jedoch als inkonsistent bezeichnet werden. Das Ergebnis ist also in sich widersprüchlich. Grenzfälle (im Bereich des "indirekten Handelns") weisen in Wirklichkeit nicht auf (normative) Ausnahmesituationen hin, sondern vielmehr darauf, daß man in gewissen Fällen für "Freispruch" plädieren muß, ohne jedoch dadurch veranlaßt zu sein, das "Gesetz" zu ändern. (Fs) (notabene)

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