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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Utilitarismus; Bentham, Sozialeudämonismus; Schmerz - Lust; Vernunft als Mittel; vier Prinzipien: Lustprinzip, Nutzenprinzip, Folgeprinzip, Sozialprinzip

Kurzinhalt: Die Vernunft ist hier ein bloßes Mittel oder Instrument, zur Bestimmung des für das Glück Nützlichen.

Textausschnitt: 275a J. Bentham beginnt seine "Introduction to the Principles of Morals and Legislation" mit der lapidaren Feststellung, daß der Mensch unter der Herrschaft zweier Souveräne stehe: Schmerz (pain) und Lust (pleasure). Diese beiden empirisch unleugbaren Prinzipien bestimmen, was wir tun sollen.1 Da jeder Mensch nach Lust, d. h. nach Glück strebt und dem Schmerz flieht, so gibt es nur eine vernünftige Haltung: Die naturale Bedingtheit oder Unterordnung unter dieses Gesetz anzuerkennen und es mit den Mitteln der Vernunft und des Gesetzes zum Wohl des Menschen zu befolgen.2 So ergibt sich als "gut", was dem Glück (der Lust) förderlich ist, als schlecht, was ihm entgegensteht. Das "Gute" ist also, angesichts des empirischen Lustprinzipes, das "Vernünftige", da es das "Nützliche", d. h. dem Glück Förderliche ist. Die Vernunft ist hier ein bloßes Mittel oder Instrument, zur Bestimmung des für das Glück Nützlichen. Das eigentliche Kriterium für die Sittlichkeit einer Handlung ist die Nutzenrelation zwischen Handlung und Glück. (Fs)

275b Bentham geht also von einem "naturalen" Faktum, einer empirischen Feststellung aus: Der Mensch steht unter der Herrschaft einer naturalen Tendenz zur Lustbefriedigung (wobei damit natürlich keineswegs nur "sinnliche" Lust, sondern auch jene, die geistige Güter hervorzubringen vermögen, gemeint ist). Der Utilitarismus sucht nun also nach dem Kriterium für die Richtigkeit des Handelns unter der Bedingung der Lust-Unbefriedigtheit. Dieses Kriterium ist das Utilitätsprinzip: gut ist, was nützt, um das Wohlergehen (Lustbefriedigung) zu fördern. Eine Handlung ist also gut, wenn ihre Folge das Wohlergehen ist, aber, wie Bentham betont, nicht das Wohlergehen des Individuums, sondern dasjenige der größtmöglichen Zahl von Menschen in einer Gesellschaft. Es finden sich also im Benthamismus vier Prinzipien: Das Lustprinzip, das Nutzenprinzip, das Folgeprinzip und das Sozialprinzip.1 (Fs) (notabene)

276a Die Frage stellt sich nun: Wie kann ich aufgrund dieser Prinzipien unterscheiden zwischen "das will ich tun" (bzw. "das gefällt mir", "das ist mir nützlich") und "das soll ich tun"? Ist es möglich, auf dieser Grundlage den Begriff einer Nützlichkeit zu gewinnen, unabhängig von der Befangenheit meiner Subjektivität? Ist jeweils, was mir als lustvoll erscheint, auch das, was dem Glück förderlich ist, d. h. das "wahrhaft Lustvolle?" Oder kommt es darauf gar nicht an? Genügt es, das empirische Luststreben einfach zu befriedigen, um glücklich zu sein? (Fs)

276b Tatsache ist, daß sich Bentham solche Fragen gar nicht stellte. Denn es sind Fragen, die in einer Ethik aufgeworfen werden, in der es darum geht zu bestimmen, worin das Glück des Menschen, die Verwirklichung des Menschseins als solchem besteht. Bentham beschäftigte sich jedoch damit, moralische Kriterien für die Gesetzgebung, vor allem im Sozialbereich, zu finden. Der Benthamism, und damit der Utilitarismus generell, ist in seiner ursprünglichen Form wesentlich eine Sozialethik, bzw. eine Ethik der Sozialreform und Gesetzgebungspraxis und formuliert sich als sogenannter "Sozialeudämonismus". (Fs)

276c Genau aus diesem Grunde wird im ursprünglichen Utilitarismus die Frage nach dem grundlegenden Moralprinzip, dem "Maßstab" des Sittlichen, noch gar nicht gestellt, bzw. ausgeklammert. Tatsächlich besitzt ja bei Bentham die Vernunft nur instrumenteilen Charakter; aber sie kann in dieser Instrumentalität niemals "Maßstab" des Sittlichen sein: Sie bleibt, als reine "Vernünftigkeit" ein bloßes Organ, der es obliegt, Handlungen bezüglich ihrer Folgen hinsichtlich des Telos (Glück) zu beurteilen. Nur dem Telos selbst kann im Handlungsbereich auch maßstäbliche Bedeutung zukommen. Dieses Telos ist jedoch in diesem Falle ein solches (die Lust und deren Befriedigung), das in dieser Aufgabe notwendigerweise versagen muß: Denn jede Lust, sowie das Streben nach ihr bzw. ihrer Befriedigung ist ein subjektives Empfinden; jede Moral, auch die utilitaristische, sucht jedoch nach einem Prinzip, das unabhängig von "je meinem Empfinden" ist, bzw. das "mein Empfinden" mit dem wahrhaft Guten oder Nützlichen in Übereinstimmung bringt; sonst brauchte man nämlich gar keine Ethik, sondern nur wirksame Gesetze, um die nach dem "Glück" strebenden Menschen voreinander zu schützen. (Fs) (notabene)

276d Es ist jedoch einleuchtend, daß bei Bentham weder die Vernunft noch das Telos (Befriedigung des Lustverlangens) maßstäbliche Funktion auszuüben vermögen. Die Lust ist eine relational-subjektive Größe; objektiv ist sie nur in ihrer natural-empirischen Faktizität, nicht jedoch in ihrem axiologischen Charakter; und die Nützlichkeit ist ebenfalls eine relationale Größe: der Nutzen konstituiert sich vom Telos her. Damit haben wir aber eine Gleichung mit zwei Unbekannten und nur einer einzigen faßbaren Konstante: dem naturalen Faktum des Luststrebens. Deshalb ist der Utilitarismus in seinem Ursprung zunächst einmal naturalistisch und vermag aber auch keine Gründe dafür anzugeben, weshalb von einem "dazu habe ich Lust" auf ein "das soll ich tun" geschlossen werden kann. (Fs) (notabene)

277a Nun will aber auch die benthamistische Ethik eine "objektive" Ethik sein; das heißt; sie beansprucht objektive Kriterien für gutes und schlechtes Handeln zu liefern. Dies vermag sie einzig und allein aufgrund des Sozialprinzips: das Kriterium, der Maßstab ist das Wohlergehen oder (subjektive) Lustempfinden der größten Zahl, der Allgemeinheit. Die Objektivität der benthamistischen Moral ist also eine Objektivität der "Mehrheit", und somit auch immer eine nur "soziologische" und "geschichtliche" Objektivität; die Frage nach dem Glück, worin denn das Glück "in Wahrheit" bestehe, wird dabei überflüssig; glücklich sein heißt sich glücklich fühlen; und zu erreichen, daß dies für die größtmögliche Zahl der Fall ist, ist das Kriterium für die "Nützlichkeit", d. h. sittliche Richtigkeit einer Verhaltensweise, bzw. eines Gesetzes. (Fs)

277b Es scheint ziemlich offensichtlich, daß in einer solchen
Begründung der Objektivität des Guten die eigentliche Grundfrage der Ethik umgangen wird: nämlich die Frage nach dem Zusammenhang von Nutzen (einer Handlung) und Wahrheit; oder genauer: worauf beruht das Gut-Sein des Nützlichen? Daß das Gute, in einem ethischen Sinne, "nützlich" ist, bestreitet niemand; ja das ist gerade der klassische Sinn der "utilitas". Aber damit das Nützliche auch gut sei, und eben deshalb wahrhaft nützlich, dazu muß zunächst das Telos in seinem Charakter als "Gutes" ausgemacht werden; erst dann ist es möglich, einen Begriff des "Nützlichen" auszumachen, der jeweils auf das "Gute" bezogen ist, also in Übereinstimmung mit dem richtigen Telos-Streben besteht, d. h. praktisch wahr ist. (Fs)

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