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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Thomas; Definition: Tugend; teleologische Ethik

Kurzinhalt: Die [sittliche] Tugend ist ein elektiver Habitus, der in der von der Vernunft bestimmten Mitte in bezug auf uns besteht, so wie der Kluge sie zu bestimmen pflegt; Verkehrung von Gegründetem und Gründendem

Textausschnitt: 266b Wenn dann die sittliche Tugend spezifischer von der intellektuellen abgegrenzt wird, dann darf zwar der Bezug auf die grundlegend-allgemeine Bestimmung des "genus" als "habitus operativus bonus" nicht verloren gehen. Die Bestimmung der Tugend muß aber ergänzt werden hinsichtlich des Spezifikums der sittlichen Tugend als jenes operativen Habitus, der das menschliche Handeln oder den actus humanus vervollkommnet. Thomas gelangt dadurch, die Formulierung von Aristoteles aus der Nikomachischen Ethik übernehmend, zur vollständen, das "ethische Proprium" berücksichtigenden Definition der sittlichen Tugend: "Virtus est habitus electivus existens in medietate quoad nos determinata ratione ut utique sapiens determinabit" ("Die [sittliche] Tugend ist ein elektiver Habitus, der in der von der Vernunft bestimmten Mitte in bezug auf uns besteht, so wie der Kluge sie zu bestimmen pflegt").1 Von I-II, q.58 an, wo die Behandlung der sittlichen Tugend beginnt, zeigt Thomas, daß das "recte operari" ein "recte eligere" bedeutet; das Verständnis der sittlichen Tugend als habitus electivus (habitus des richtigen "Wählens" und damit des richtigen Handelns) wird dabei bestimmend. (Fs)

267a Die sittliche Tugend verursacht also die "rectitudo" der electio, jenes wählenden Willensaktes, der unmittelbar handlungsauslösend und als solcher nicht den Gehalt einer Gesinnung, sondern den Gehalt einer Handlung formt.1 Diese "electio" ist gemäß einer von der Vernunft bestimmten Mitte "in bezug auf den Handelnden" geprägt; diese Mitte ist jene, wie sie der Klugheit entspricht; sie ist die recta ratio. (Fs)

267b Es würde hier viel zu weit führen, alle Implikationen dieser überaus reichen Definition darzulegen. Im vorliegenden Zusammenhang ist nur folgendes von Bedeutung: Der Begriff der sittlichen Tugend bezieht sich bereits schon auf eine wohlausgearbeitete Psychologie des menschlichen Handelns; auf seine elektive Struktur, was heißt: auf die Tatsache, daß das Handeln in einem wählenden Streben liegt, das von einer durch die Vernunft bestimmten Richtigkeit geprägt ist und schließlich, daß wir sittlich "gut" oder "schlecht" sind, entsprechend den Handlungen, die wir, aufgrund der Disposition unserer Strebepotenzen, im Akt des Wählens wollen. Das entscheidend Neue am Begriff der Tugend als sittlicher Tugend, im Unterschied zur "reinen" "recta ratio", ist die vernunftkonforme Disposition der Strebungen, eine Disposition die habituell ist genau deshalb, weil sie eine den Strebungen eingeprägte stabile Disposition bedeutet, vernunftgemäß, d. h. gemäß der Regel der Vernunft zu streben. Das heißt: die "ratio virtutis", was die sittliche Tugend zur Tugend macht, ist nicht nur die "Habitualität", wie etwa Schüller unterstellt; diese ist jeder Tugend eigen, auch der intellektuellen; und auch nicht die "freie Entschlossenheit", denn diese prägt überhaupt jedes sittliche Handeln als actus humanus. Spezifisch für die sittliche Tugend ist vielmehr die Übereinstimmung des Strebens mit der Vernunft.2 Der Begriff der sittlichen Tugend bezieht sich also wesentlich und konstitutiv auf die Lehre von der maßstäblichen Telos-Funktion der Vernunft, und nicht einfach auf die "habituelle freie Entschlossenheit" zur richtigen Handlungsweise. Der Begriff der "richtigen Handlungsweise" als Handlung, die einer Tugend zugehört, impliziert, weil an den Begriff der Tugend zurückgebunden, bereits die normative Grundlage dieser Richtigkeit der richtigen Handlungsweise: Die Vernunftgemäßheit, so wie sie im Begriff der sittlichen Tugend bestimmt wurde.3 (Fs) (notabene)

267c Nur durch die Unterstellung einer für das Verständnis des Phänomens "Sittlichkeit" analytisch ungenügenden und deshalb praktisch inhaltslosen Definition der sittlichen Tugend, gelingt es also Schüller, seine Behauptung plausibel zu machen, zur Bestimmung der tugendhaften Handlung genüge es, "Handlungsweisen" auf ihre Richtigkeit oder Falschheit hin zu analysieren. Durch die Verkehrung von Gegründetem und Gründendem verliert er dabei, wie alle teleologischen Ethiker, das normative Fundament des menschlichen Handelns, so wie es im Begriff der sittlichen Tugend als Tugend erfaßt ist, aus den Augen. Was zurückbleibt ist eine Abstraktion, die irrtümlicherweise als Ausgangspunkt der diskursiven Begründung von Normen angesehen wird. Die Normativität muß aufgrund dieses "Kadavers" der sittlichen Handlung, aufgeteilt in "Güter" und "Werte", rekonstruiert werden. Das Instrument dieser Rekonstruktion ist die Vernunft als diskursive Vernünftigkeit: eine Technik der Normenbegründung, die man Güterabwägung nennt. Die Vernunft als Maßstab geht dabei jedoch verloren. (Fs)

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