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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Erbsünde: gefallene Natur, natura pura; fomes peccati; Urzustand: integritas; malum poenae - Strafübel; praeternaturale - nicht übernatürliche Gabe

Kurzinhalt: Dieser anthropologische Tatbestand, der ganz einfach zur conditio humana gehört, wird jedoch in theologischer, und d. h. heilsgeschichtlicher Perspektive als der Zustand einer gefallenen Natur betrachtet ...

Textausschnitt: 259a Dasselbe läßt sich, wie hier nur kurz aufgezeigt werden soll, bezüglich des Begriffes "fomes peccati" sagen: Für Thomas ist dieses Gesetz der Sinnlichkeit, dem die Menschheit als Strafe für die Ursünde anheimgefallen ist, eine Folge des Verlustes der ursprünglichen Vollkommenheit des Urzustandes, der, was die Naturvollkommenheit des Menschen, also unter Absehung der "gratia elevans", betrifft, gerade in der außernatürlichen Urstandsgabe der "integritas" bestand; diese Integrität war, wie Thomas erklärt, nichts anderes als der geschenkhaft verliehene Besitz der Tugend, d. h. die Unterordnung der Vernunft unter Gott (Gerechtigkeit) - diejenige des Willens unter die Vernunft nach sich ziehend - sowie die Unterordnung der sinnlichen Strebungen unter die Vernunft.1 Dieser Zustand der "natura integra" als Vollbesitz der sittlichen Tugend, ist zugleich jener Zustand, in dem die lex naturalis als Gesetz der praktischen Vernunft ihre volle Wirksamkeit und ungetrübte Gültigkeit besaß. (Fs)

259b Der Verlust dieser Integrität zerstört diese Vollkommenheit, aber nicht durch eine Zerstörung der Natur, sondern durch den Verlust der Gabe der "integritas", d.h. der die Natur vervollkommnenden Tugend, die dem Menschen ja wohl der Natur gemäß zukommt, die er aber nicht von Natur aus besitzt, sondern durch seine Akte erwirbt; gerade darin liegt ihr Charakter als "außernatürliche" ("praeternaturale"), aber nicht "übernatürliche" Gabe begründet. Durch ihren Verlust fällt die Natur auf sich selbst und die ihr als leib-seelische Natur zukommenden "defectus naturae" zurück. Der Begriff "fomes peccati" reflektiert diese "natura sibi relicta"2 in der theologisch-heilsgeschichtlichen Perspektive einer "privatio" und damit eines "malum poenae", eines Strafübels.3 Die Rebellion des Willens und insbesondere der Sinnlichkeit gegen die Vernunft ist demnach einerseits, philosophisch-anthropologisch betrachtet, ganz einfach Bestandteil der conditio humana: denn der Wille ist, wie wir sahen, nicht von Natur aus habituell auf das Gut des anderen, bzw. auf das Gut Gottes bezogen; und ebensowenig sind es die sinnlichen Strebungen bezüglich des bonum rationis; die Sinnlichkeit zielt von Natur aus auf ein bonum sensibile. Wille und sinnliche Strebungen sind aber von Natur aus dazu angelegt, der Vernunft gemäß zu streben; darin liegt ihre Vollkommenheit bzw. die sittliche Tugend.4 (Fs)

260a Dieser anthropologische Tatbestand, der ganz einfach zur conditio humana gehört, wird jedoch in theologischer, und d. h. heilsgeschichtlicher Perspektive als der Zustand einer gefallenen Natur betrachtet, und zwar nur und ausschließlich deshalb, weil es "am Anfang", aufgrund einer von Gott verliehenen, die Kräfte der bloßen Natur übersteigenden Gabe, nicht so war.5 Die platonische Philosophie hat aus der anthropologischen Erfahrung einer inneren Widersprüchlichkeit in der menschlichen Natur, des Widerstreites zwischen Leib und Geist, dualistische Konsequenzen gezogen und sie, schöpfungstheologisch, mit Hilfe des Mythos vom Demiurgen gedeutet. Beim jungen Aristoteles finden sich noch Anklänge an jenen "Spruch der Alten", der besage, "daß die Seele Buße zu zahlen habe und daß wir zur Strafe für irgendwelche großen Verfehlungen leben".6 Später wird Aristoteles, nach Aufgabe der dualistischen Anthropologie, nur noch konstatieren, daß "unserer Natur eine Art Schlechtigkeit anklebt"7; historische Erklärungen in der Art des platonischen Mythos sind hier nicht mehr möglich, wohl aber ergibt sich daraus ein gewisser Pessimismus bezüglich der sittlichen Möglichkeiten "der Vielen"; das wahre Glück scheint nur auf einige Wenige, die Elite der Philosophen und "Spoudaioi" beschränkt zu sein. Die Stoa wird das Problem durch ein kosmologisches Harmonisierungsmodell lösen, die Neuzeit durch ein geschichtsphilosophisches Evolutionsmodell, das seinerseits aus den mißglückten Versuchen einer neuzeitlichen Theodizee hervorgegangen ist, dem Versuch die Güte und Weisheit des Schöpfergottes angesichts der offenbaren Unzulänglichkeit der menschlichen Natur zu rechtfertigen. Die aristotelische Anthropologie und Ethik bleibt das einzige Paradigma einer realistischen rein philosophischen Anthropologie der "gefallenen Natur", die zugleich das Geheimnis des Ursprungs dieses Zustandes als Mysterium intakt läßt. Sie beschreibt die menschliche Natur so, wie sie ist; aber sie vermag nicht zu deuten, weshalb sie so ist; d. h.: daß sie eine "gefallene Natur" ist. Keine menschliche Wissenschaft jedoch vermöchte das je zu erklären. Der antike Mythos besaß die Weisheit der Intuition, daß nur eine historische Erklärung möglich sei. Aber dieser Mythos war nicht die wahre Geschichte. Die wahre Geschichte ist von dem, der weiß, warum und wie er den Menschen erschaffen hat, offenbart worden, um dem Menschen seine Erlösungsbedürftigkeit vor Augen zu stellen. (Fs) (notabene)

261a Spricht man deshalb vom Naturgesetz in dieser theologisch-heilsgeschichtlichen Perspektive, so kann man den jetzigen Zustand als seine "Zerstörung" reflektieren, d. h. als die Zerstörung seiner unter den Bedingungen der ursprünglichen Integrität, der Tugend, einstmals bestehenden Vollkommenheit, wie sie jetzt vom Menschen nur mit Mühe und Anfechtung wiedergewonnen werden kann.8 Insofern dieser Zustand der auf sich selbst zurückgeworfenen Natur als "Strafübel" betrachtet wird, kann man es auch als "Gesetz" betrachten; d. h. als ordinatio der ratio der göttlichen Vorsehung, die über die Menschheit eine Strafe verhängt.9 (Fs)

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