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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Polis - Universalgesellschaft, Weltstaat - Kosmos von Gott regiert; Naturrechtslehre (Durchgangsstadium) -> Gerechtigkeit; esoterisch - exoterisch

Kurzinhalt: Die konsistent gerechte Gesellschaft ist deshalb gezwungen, sich in einen Weltstaat zu verwandeln ... in Wahrheit der von Gott regierte Kosmos; »It is to understand Socrates«

Textausschnitt: 192a Die Umwandlung der Polis in eine Universalgesellschaft wird notwendig aufgrund eines Selbstwiderspruchs der politischen Tugend oder der bürgerlichen Moral. In der gerechten Gesellschaft kann allein das Prinzip des Verdienstes die gesellschaftliche Hierarchie bestimmen. Solange aber die bürgerliche Gesellschaft national geschlossen ist, durchkreuzt etwa das Abstammungsprinzip das Verdienstprinzip. Zudem macht die nationale Geschlossenheit der bürgerlichen Gesellschaft die Freund-Feind-Unterscheidung notwendig, die unmittelbar in den SeLbstwiderspruch der bürgerlichen Moral führt. Was die politische Gesellschaft nach innen als untugendhaft verwirft, muß sie unter den Bedingungen des Krieges nach außen zumindest teilweise als nützlich gutheißen. Die konsistent gerechte Gesellschaft ist deshalb gezwungen, sich in einen Weltstaat zu verwandeln. Dies wiederum kann transpolitische theologische Folgen haben. »Aber kein Mensch und auch keine Gruppe von Menschen kann die ganze Menschheit gerecht regieren. Daher ist das, was man ahnt, wenn man von >Weltstaat< als einer allumfassenden menschlichen Gesellschaft spricht, die einer einzigen menschlichen Regierung unterworfen ist, in Wahrheit der von Gott regierte Kosmos. Dieser ist dann die einzig wahre Polis oder ganz einfach die naturgemäße Polis, weil sie die einzige schlechthin gerechte Polis ist. Die Menschen sind nur dann ihre Bürger oder freie Menschen in ihr, wenn sie weise sind. Ihr Gehorsam gegenüber dem Gesetz, das diese natürliche Polis ordnet, dem Naturgesetz, ist dasselbe wie Klugheit.« Das ist eine erstaunliche Konsequenz für einen Gedankengang, der so exakt wie möglich den Charakter der sokratisch-platonisch-stoischen Naturrechtslehre beschreiben möchte. Strauss schließt diesen Abschnitt mit einer Fußnote ab, der ausführlichsten im ganzen Buch. Darin heißt es: »Viele Interpreten Platons beachten nicht in genügendem Maße die Möglichkeit, daß das Anliegen seines Sokrates ebenso sehr im Verstehen dessen, was Gerechtigkeit ist, d.h. im Verstehen der ganzen Verwickeltheit des Gerechtigkeitsproblems, wie im Lehren [preaching] der Gerechtigkeit bestand.« (Fs)

193A Diese Bemerkung verdient die höchste Aufmerksamkeit, wenn die Absicht der ganzen Schrift Natural Right and History in dem Hinweis »It is to understand Socrates« angedeutet ist, der sich aus den in Kapitälchen gesetzten Eröffnungsformulierungen der »Introduction« und der beiden Kapitel über »The Origin of the Idea of Natural Right« und über »Classical Natural Right« ergibt. In der einzigen vorliegenden deutschen Übersetzung ist dieser Hinweis leider verlorengegangen. Geht es Strauss selbst mithin weniger um das Predigen einer Naturrechtslehre als um das Verstehen des ganzen, verwickelten Naturrechtsproblems bis hin zur Verwerfung der politischen Philosophie durch Heidegger? Die klassische Naturrechtslehre ist politisch, sie ist keine juristische, rein philosophische oder ethische Doktrin. Als politische Lehre umfaßt sie die Untersuchung des Gerechtigkeitsproblems auf der Ebene der bürgerlichen Moral, die aufgrund ihrer inneren Widersprüche über sich selbst hinausweist. Die Argumentation in dem hier zur Debatte stehenden Abschnitt endet in dem Schluß, »daß man sagt, es kann keine wahre Gerechtigkeit geben, wenn es keine göttliche Herrschaft oder Vorsehung gibt«. Das politische Problem der Naturrechtslehre, das darin gipfelt, daß es keine politische Lösung für das fundamentale Dilemma gibt, verbindet sich hier mit der Frage der Religion, es verdichtet sich zu dem theologisch-politischen Problem, von dem Strauss sagte, es sei seit seinen Spinoza-Studien das Thema seiner Untersuchungen geblieben. Es ist in erster Linie ein Problem für die Philosophie und das philosophische Leben. In dem folgenden Abschnitt wendet sich Strauss konsequenterweise der philosophischen Alternative zu. Die Naturrechtslehre ist nur ein Stadium auf dem Weg, die Gerechtigkeit zu verstehen. Die Lösung transzendiert die Sphäre des politischen Lebens. Neben der theologischen Lösung, die auf einen religiös verordneten Gesetzesgehorsam hinausläuft, gibt es noch andere Gründe, die politische Sphäre zu transzendieren, die Strauss hier freilich nur »andeutet«. Diese Gründe sind in den Erfordernissen des philosophischen Lebens als des wahrhaft natürlichen Lebens zu suchen. Das philosophische Leben aber stellt die bürgerliche Moral radikal in Frage. Es eröffnet eine ganz andere Dimension von Gerechtigkeit, Tugend und Moral, die einer anderen Wurzel als der vulgären bürgerlichen Moral entspringt. Die Wahrheit des philosophischen Lebens und der es tragenden noetischen Tugend, das mit ihm verbundene von Natur aus Rechte steht zum politischen Naturrecht in einem revolutionären Gegensatz. Das politische Naturrecht beruht auf einem niedrigeren Prinzip, es ist eine exoterische, abgeschwächte Version. »Das Naturrecht würde Dynamit für die bürgerliche Gesellschaft sein.« Diese Aussage beschreibt prägnant das Verhältnis zwischen Philosophie und Politik und sowohl die politische Gefährdung als auch die politische Verantwortung der Philosophie. In der Konsequenz führt dies zu einem Kompromiß zwischen natürlichem und konventionellem Recht, zwischen den Erfordernissen der Weisheit und der Zustimmung. Das politisch Gute besteht in einer zumindest nach außen hin akzeptierten radikalen Reduktion des Anspruchs der Philosophie, einer Reduktion, die »eine ungeheure Menge Übels entfernt, ohne eine ungeheure Menge von Vorurteilen zu erschüttern«.1 (Fs) (notabene)

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