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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Aristophanes (Wolken) - Sokrates; Philosophie - Dichtung; Ursprung: politische Philosophie

Kurzinhalt: Weil die Philosophie nicht in der Lage ist, die Nicht-Philosophen oder das normale Volk zu überreden, ist sie keine politische Macht

Textausschnitt: 170A Aristophanes zeigt den »vorsokratischen« Sokrates, der in seiner Schule Naturwissenschaft und Rhetorik lehrt, der nicht an die Götter seiner Stadt glaubt und sich ansonsten durch einen wundersamen Mangel an Klugheit und Selbsterkenntnis auszeichnet. Dieser Sokrates agiert in einem dramatischen Setting, in dem der Konflikt zwischen hergebrachter Moral und hergebrachter Theologie zum Austrag kommt. Die natürliche Kluft zwischen Familie und Stadt muß in irgendeiner Form überbrückt werden, weil die Familie nicht autark ist und die städtische Gemeinschaft braucht. So gibt es bestimmte konventionelle Regeln wie das Verbot des Inzests, welche die Familie zwingen, im Interesse ihres Fortbestands in die Stadt zu expandieren. Die konventionellen Regeln, welche die Kluft zwischen Familie und Stadt überbrücken helfen, können jedoch nur wirksam funktionieren, wenn sie durch Bezugnahme auf die Götter geweiht werden. Das aber ist wiederum ein Problem für sich. Die Frage ist, was Philosophie und Dichtung zur Lösung dieses Problems, in das sie unmittelbar eingebunden sind, beitragen können. Aristophanes wirft Sokrates vor, als Naturforscher gleichgültig gegenüber Problemen der Gerechtigkeit zu sein. Es sei zwar richtig, daß niemand, der wie Sokrates sein Leben dem Erforschen der Natur widmet, einen Anreiz habe, anderen Schaden zuzufügen. Aber Sokrates übersehe, daß nur wenige zu einem theoretischen Leben fähig wären. Er sei unempfänglich für die verheerende Wirkung, die seine Gleichgültigkeit auf das Leben der Stadt habe, wenn auch die normalen Menschen, die keine Philosophen sind, von Sokrates' Ansicht beeinflußt werden sollten. Sokrates sei sich des Umfeldes nicht bewußt, in dem er seine theoretischen Forschungen betreibt. Deshalb mangele es ihm an Klugheit und Selbsterkenntnis. Er sei aus Unverstand unpolitisch und deshalb gefährdet. Wenn Sokrates in den Wolken verfolgt wird, hat er keine Mittel zur Verteidigung. Naturforschung und Rhetorik verleihen keine politische Macht. Die Dichtung ist im Gegensatz zur Philosophie sehr wohl eine politische Autorität, weil sie mit den ihr eigenen Mitteln die Öffentlichkeit beeinflussen kann. (Fs)

171A Das Szenario, das Aristophanes entwickelt, ist für Strauss deshalb so bedeutend, weil es in der Figur des Sokrates, des Begründers der politischen Philosophie, die Situation unmittelbar vor der Hinwendung der Philosophie zur politischen Sphäre greifbar werden läßt. Es macht den Hintergrund der Begründung der politischen Philosophie plastisch und hebt dabei ein wichtiges inhaltliches Merkmal der politischen Philosophie hervor, die Selbsterkenntnis des Philosophen in seiner politischen Situation. Aristophanes zeigt einen Sokrates, der das Ganze der Natur erforscht und von politischen Dingen nichts versteht. Das Anliegen der Philosophie transzendiert die Polis. Weil die Philosophie nicht in der Lage ist, die Nicht-Philosophen oder das normale Volk zu überreden, ist sie keine politische Macht. »Philosophie kann im Gegensatz zur Dichtung die Menge nicht bezaubern. Weil Philosophie das Menschliche und Ephemere transzendiert, ist sie radikal unpolitisch, und sie ist daher amusisch und unerotisch. Sie kann nicht die gerechten Dinge lehren, während die Dichtung dies kann. Philosophie muß dann um eine Beschäftigung ergänzt werden, welche politisch ist, weil sie musisch und erotisch ist, wenn Philosophie gerecht werden soll. Philosophie mangelt es an Selbsterkenntnis. Dichtung ist Selbsterkenntnis.« Platon hat dieses Problem gesehen und den athenischen Fremden in den Gesetzen eingestehen lassen, daß die menschlichen Dinge eines gewissen Ernstes wert seien. »Die Anerkennung der Tatsache durch die Philosophie, daß die menschliche Rasse eines gewissen Ernstes wert ist, ist der Ursprung der politischen Philosophie oder politischen Wissenschaft. Wenn diese Anerkennung jedoch philosophisch sein soll, muß dies bedeuten, daß die politischen Dinge, die bloß menschlichen Dinge, von entscheidender Wichtigkeit für das Verstehen der Natur als Ganzes sind. Der Philosoph, der dies als erster realisierte, war Sokrates, der Sokrates, der aus dem Sokrates der Wolken hervorgegangen ist.« (Fs)

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