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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: ratio naturalis - intellectus imperfectus ist -> zweifacher Erkenntnismodus: einen strikt natürlichen (bezogen auf das naturaliter cognitum) und einen diskursiv-inventiven

Kurzinhalt: Der doppelte Erkenntnismodus der natürlichen Vernunft; ... der zweite [diskursiv] ist eine Entfaltung des lumen naturale selbst... entsprechend erklärt sich nach Thomas auch die Entfaltung der lex naturalis:

Textausschnitt: 215a Es bleibt nun allerdings die gewichtige, wenn nicht entscheidende Frage, welche Erkenntnisse dieses Lichtes der natürlichen Vernunft - der Intellekt - dem Menschen zu erschließen vermag. Handelt es sich dabei wirklich nur um die allerersten Prinzipien, wie die autonomistische Thomasexegese behauptet? Und heißt das dann auch, daß das Naturgesetz wirklich nur ein rein formaler Imperativ ist, das Gute zu tun, und zwar aufgrund vernünftiger Einsicht, eine Vernünftigkeit, die allerdings mit dem "naturaliter cognitum" keinen inhaltlichen Zusammenhang besitzt, sondern der "Freiheit des vernünftigen 'Erfindens'"1 überlassen bleibt?

215b Daß Thomas das nicht gemeint hat, wird sofort deutlich, wenn man den Zweiten Teil der Secunda Pars liest, die spezielle Moral oder Tugendlehre. Böckle behauptet zwar - im Zusammenhang mit der Behandlung der Lüge -, daß Thomas hier offenbar neothomistisch-essentialistisch argumentiert, seinen eigenen Ansatz also offenbar selbst nicht verstanden oder ihn nicht durchgehalten hat; es lasse sich aber "aus der Gesamtlehre des Aquinaten" doch zeigen, "daß der Rückgriff auf die Natur im Rahmen der Vernunftordnung verstanden werden muß".2 Diese Schwierigkeiten und scheinbaren Fehlargumentationen von Thomas beruhen aber vermutlich doch eher auf Fehlinterpretationen der Thomasexegeten, als auf Schwierigkeiten des hl. Thomas, seinen eigenen Ansatz durchzuhalten. (Fs) (notabene)

216a Die Frage, was denn nun eigentlich das Naturgesetz beinhalte oder: welche inhaltliche Extension dem dictamen der ratio naturalis zukomme, hat die Interpreten wiederholt intensiv beschäftigt.3 In der Tat scheinen die Äußerungen von Thomas darüber, was denn nun eigentlich zum Naturgesetz gehöre, nicht immer alle wünschenswerte Klarheit zu besitzen. Die Schwierigkeiten beruhen darauf, daß Thomas, wie so oft, gerade im Gesetzestraktat, einiges voraussetzt, was innerhalb dieses Traktates nicht mehr besonders expliziert wird: Es handelt sich dabei um die Lehre der Entfaltung der intellektiven Erkenntnis durch den Prozeß der inquisitio oder inventio der ratio naturalis. Übergeht man die diesbezügliche Lehre Thomas', so übersieht man auch die wichtige Tatsache, daß die ratio naturalis - weil sie ein intellectus imperfectus ist -, einen zweifachen Erkenntnismodus besitzt: einen strikt natürlichen (bezogen auf das naturaliter cognitum) und einen diskursiv-inventiven. Wenn Thomas deshalb oft von einem invenire spricht, so meint er damit nicht ein "Erfinden" schöpferischer Art, sondern ein durch das Licht der natürlichen Vernunft ermöglichtes "Finden", ein "Entdecken" oder Erfassen von Wahrheit; und dies sowohl in der spekulativen wie auch in der praktischen Vernunft.4 Die Berücksichtigung der via inventionis als diskursiver Prozeß der ratio naturalis ist entscheidend für das Verständnis der Extension des Naturgesetzes; denn, wie gezeigt werden soll, unterscheidet dort Thomas einen doppelten Akt der ratio naturalis: einen natürlichen und einen diskursiv-inventiven. Der zweite ist eine Entfaltung des lumen naturale selbst. Und entsprechend erklärt sich nach Thomas auch die Entfaltung der lex naturalis: Diese ist zunächst - und darin liegt ihre ganze Kraft als natürliches Gesetz der praktischen Vernunft - eine naturalis conceptio oder ein naturaliter cognitum, entfaltet sich jedoch diskursiv-inventiv in den sogenannten sekundären Präzepten. (Fs)

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