Datenbank/Lektüre


Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: lumen intellectuale; nous poietikos;

Kurzinhalt: daß der menschliche Intellekt als lumen naturale nicht einfach nur eine Befähigung zum Denken ist, sondern daß er in einem gewissen Sinne "Wahrheit enthält" ...

Textausschnitt: 4.1.4 "Lumen intellectuale"

210b Während schon Platon die Quelle aller Erkenntnis von Wahrheit - für ihn die substistierende Idee des Guten - mit der Sonne verglichen hatte, war es ja vor allem Aristoteles, der seinen nous poietikos, den thomistischen intellectus agens, mit dem Licht verglich. Thomas schöpft in diesem Zusammenhang die Metapher des lumen intellectuale voll aus. (Fs)

210c Diese Lichtfunktion des Intellektes war für einen Philosophen wie Aristoteles zunächst eine metaphysisch interpretierte Erfahrungstatsache: Anders schien ihm die Leistungskraft und Eigenart menschlicher Erkenntnis nicht erklärbar. Aber auch Aristoteles war sich, wohl nicht zuletzt aufgrund seiner platonischen Herkunft, dabei bewußt, der Intellekt im Menschen müße etwas Göttliches sein; er nennt ihn den "Gott in uns".1 Nicht nur in der Eudemischen, auch in der Nikomachischen Ethik bleibt dieses Thema, allerdings ohne frühere dualistische Anklänge, präsent: Verstand (nous) und Vernunft (logos) sind etwas "Göttliches in uns", "unser wahres Selbst", "unser vornehmster und bester Teil".2 Die intellektuelle Schau ist die den Göttern eigentümliche Tätigkeit, und wer das Leben des Geistes, den "Gott in sich" pflegt, den verbinden besondere Freundschaftsbande mit den Göttern und er darf auch ihrer besonderen Belohnung sicher sein.3 (Fs)

211a Diese vorchristlichen Anklänge an den imago-Charakter des Intellektes finden bei Thomas, wie es kaum verwundern kann, ihre volle Entfaltung, potenziert durch seine Rezeption und gleichzeitige Korrektur der platonisch-augustinischen Illuminationslehre: Was bei Augustinus noch aktuelle Erleuchtung durch den göttlichen Intellekt war, wird bei Thomas zu einer am göttlichen Intellekt als imago partizipierenden, im Menschen als causa secunda seinsmäßig verankerten Erkenntnispotenz. Nichts fehlt allerdings dieser Potenz, was nicht auch nach augustinischer Lehre der Kraft göttlicher Illumination zugesprochen werden könnte. Der menschliche Intellekt ist tatsächlich eine Teilhabe am göttlichen Erkenntnislicht, sodaß Thomas, mit Augustinus, sogar sagen kann, "daß die Seele alles in den ewigen Erkenntnisgründen (in rationibus aeternis) erkennt; denn durch die Partizipation an ihnen erkennen wir alles. Das intellektuelle Licht selbst, das sich in uns befindet, ist nichts anderes als eine bestimmte partizipierte Ähnlichkeit" - d. h. die imago - "des ungeschaffenen Lichtes, in welchem die ewigen Erkenntnisgründe enthalten sind".4 Nicht zufällig folgt wiederum das Zitat aus Psalm 4, das Thomas hier mit den Worten paraphrasiert: "Quasi dicat: Per ipsam sigillationem divini luminis in nobis, omnia demonstrantur", "Durch die Einprägung selbst des göttlichen Lichtes in uns wird alle Wahrheit aufgewiesen".5 (Fs)

211b Es zeigt sich bereits hier, daß der menschliche Intellekt als lumen naturale nicht einfach nur eine Befähigung zum Denken ist, sondern daß er in einem gewissen Sinne "Wahrheit enthält"; dies nicht im Sinne angeborener Ideen, sondern weil er Partizipation an jenem göttlichen Licht ist, in dem alle Wahrheit enthalten und nach dem alle Dinge geschaffen sind und ihre Wahrheit, das heißt Übereinstimmung mit dem göttlichen Intellekt, besitzen. Der menschliche Intellekt ist also in seiner wahrheitsaufweisenden Lichtfunktion gerade nur aufgrund seines partizipierten Charakters verständlich, besitzt aber deshalb, als imago, eine eindeutige inhaltliche Relevanz. Deshalb finden wir auch die Formulierung, das lumen intellectus nostri sei eine "impressio veritatis primae", vermittels derer wir erkennen.6 (Fs)

211c Die wohl eindrücklichste Formulierung findet sich in den "Quaestiones Quodlibetales", wo Thomas, wiederum in Auseinandersetzung mit der augustinischen Position, daß wir alle Wahrheit in der Ersten Wahrheit erkennen, die Partizipation des göttlichen Intellektes eine resultatio der göttlichen Wahrheit in uns nennt, sodaß "ab una prima veritate multae veritates in mentibus hominum resultant." Diese resultatio zeigt sich in doppelter Weise: Im lumen intellectuale selbst (es fehlt auch hier nicht das Zitat aus Psalm 4) und, zweitens, "quantum ad prima principia naturaliter notae". Aus diesen könne ausschließlich deshalb Wahrheit hervorgehen, weil sie eine "similitudo illius primae veritatis" sind; aufgrund dieser Tatsache haben sie auch Unveränderlichkeit und Unfehlbarkeit. Und Thomas schließt: Wir erkennen also alle Wahrheit in Gott, aber nicht, weil wir sie unmittelbar in ihm selbst sehen; sondern "in der ratio selbst seiner imago" ("in ipsa ratione suae imaginis"), d. h., fügt der Text bei, "der von ihm vorgebildeten Wahrheit" ("veritatis ab ea exemplatae") "erkennen wir alle Wahrheit".1 Somit ist die natürliche Erkenntnis der Vernunft - sie geht auf das lumen intellectuale zurück - "eine Aehnlichkeit der göttlichen Wahrheit, die unserem Geist (mens) eingeprägt ist", - wobei auch hier die Referenz zu Psalm 4 nicht fehlt.2 (Fs)

212a Im Kommentar zur "Elementatio Theologica" (Liber de Causis) von Proclus wird die causa prima selbst als lumen bezeichnet3, ganz in Übereinstimmung mit jener anderen von Thomas kommentierten und überaus häufig zitierten Schrift "De Divinis Nominibus" von Dionysius (Pseudo-)Areopagita. Die Ursächlichkeit des Lichtes (causalitas luminis) vertreibt aus den Seelen alle Unwissenheit und jeden Irrtum4; Gott, das supersubstantiale Bonum, ist lumen intelligibile inquantum est quidam "radius" et fons omnis intellectualis luminis.5 Als solches besitzt es einen doppelten Effekt: Es erleuchtet den Geist von Anbeginn an, d. h.: verleiht ihm seine natürliche Erkenntnis (naturalis cognitio); zweitens gibt er ihm, über das Natürliche hinaus, das lumen gratiae und das lumen gloriae, gemäß der bereits besprochenen Dreistufung der Entwicklung der imago6 Ziel und Wirkung der Ursächlichkeit des Lichtes besteht darin, alle intellektuellen und rationalen Wesen in der Wahrheit zu vereinen.7

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt