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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Platon; Höhlengleichnis; zweite Höhle; Moderne, Aufklärung

Kurzinhalt: »Die Absicht der Aufklärung war die Rehabilitierung des Natürlichen durch die Leugnung (oder Einschränkung) des Übernatürlichen; aber ihre Leistung war die Entdeckung eines neuen >natürlichen< Fundaments, das ...

Textausschnitt: 19a Die Absicht der Auseinandersetzung mit der Moderne kann in erster Näherung durch ein Bild verdeutlicht werden, das sich an Platons Höhlengleichnis anschließt. Zu Beginn des siebten Buches der Politeia beschreibt Platon die Situation der gewöhnlichen Menschen, der Nicht-Philosophen, als diejenige von Höhlenbewohnern, die nur Schatten von künstlichen Gegenständen wahrnehmen und in ihren Meinungen über deren Bedeutung und Zusammenhang befangen sind. Weil sie anders als die Philosophen keinen Begriff von »Natur« haben, wissen sie nicht einmal, was künstliche Dinge im Unterschied zu natürlichen Dingen sind. Sie halten deshalb ihre Meinungen für die Wahrheit schlechthin und erheben sie durch gesellschaftliche Konventionen der Höhlengemeinschaft zum autoritären öffentlichen Dogma. Der Philosoph unterscheidet sich von der Höhlengemeinschaft dadurch, daß er von den Meinungen zum Licht der Erkenntnis aufzusteigen versucht. Das Höhlendasein beinhaltet für den Philosophen eine natürliche Schwierigkeit. Die Voraussetzung des Philosophen ist es, seine Intention von der Meinung auf die Erkenntnis zu richten und sein Augenmerk von den künstlichen Dingen auf ihre natürlichen Ursachen zu lenken. Der Standpunkt der philosophischen Intention ist bereits mit der Einsicht verbunden, als Höhlenbewohner in einer natürlichen Unwissenheit zu leben und die Meinungen der Höhlengesellschaft als den natürlichen Ausgangspunkt für den Aufstieg zur Erkenntnis nutzen zu müssen. Die natürliche Schwierigkeit ist nicht nur ein philosophisches, sondern zugleich ein politisches Problem. Strauss zeigt, daß das Höhlengleichnis einen politischen Sinn hat, insofern die Höhle mit der Welt der Polis gleichzusetzen ist. Es gehört wesentlich zum Selbstverständnis der Höhlenbewohner, kein Bewußtsein davon zu haben, daß ihre Heimstatt nur eine Höhle innerhalb des Universums ist. Sie halten ihre Stadt für die Welt schlechthin oder zumindest für das Höchste in der Welt. Die Absicht des Philosophen, auf die Natur hinter den künstlichen Dingen zu schauen, hat deshalb in ihrem Ursprung eine politische Bedeutung. Durch die bloße Absicht auf Erkenntnis stellt der Philosoph das autoritäre öffentliche Dogma in Frage und gerät in einen politischen Konflikt mit der Gesellschaft, in der er lebt. (Fs) (notabene)

20A Die Situation des modernen Menschen ist nach Leo Strauss nicht mehr die der natürlichen Unwissenheit der ursprünglichen Höhlenbewohner: »wir befinden uns heute in einer zweiten, viel tieferen Höhle als die glücklichen Unwissenden, mit denen es Sokrates zu tun hatte«. In die »zweite Höhle« geraten zu sein ist das Ergebnis der modernen Aufklärung. »Die Absicht der Aufklärung war die Rehabilitierung des Natürlichen durch die Leugnung (oder Einschränkung) des Übernatürlichen; aber ihre Leistung war die Entdeckung eines neuen >natürlichen< Fundaments, das alles weniger als natürlich, vielmehr gleichsam das Residuum des >Übernatürlichen< ist.« In dem Willen, den Konflikt zwischen Philosophie und Gesellschaft zu harmonisieren, betrachtete die Aufklärung die Gesellschaft als eine Gesamtheit möglicher Philosophen und glaubte, durch eine Popularisierung der Philosophie Einfluß auf sie ausüben zu können. Für die Philosophie ergibt sich dadurch eine neue Situation und eine mehrfache Herausforderung. Wenn es wahr ist, daß die Philosophie von dem natürlichen Selbstverständnis der Gesellschaft und der Ebene der natürlichen Meinungen auszugehen hat, dann muß sie zuerst wieder das Niveau der natürlichen Höhle erreichen. In Begriffen der klassischen Beschreibung der natürlichen Schwierigkeiten der Philosophie formuliert Strauss das Problem so: (Fs) (notabene)

»Menschen können solche Angst vor dem Aufstieg zum Licht der Sonne bekommen und so begierig werden, den Aufstieg für jeden ihrer Nachkommen äußerlich unmöglich zu machen, daß sie eine tiefe Grube unterhalb der Höhle graben, in welcher sie geboren wurden, und sich in diese Grube zurückziehen. Wenn einer ihrer Abkommen wünschen würde, zum Licht der Sonne aufzusteigen, müßte er erst versuchen, das Niveau der natürlichen Höhle zu erreichen, und er müßte neue und höchst artifizielle Werkzeuge erfinden, die für jene, die in der natürlichen Höhle lebten, unbekannt und unnötig waren. Er wäre ein Dummkopf, er würde nie das Licht der Sonne sehen, er würde die letzte Spur der Erinnerung an die Sonne verlieren, wenn er verkehrterweise dächte, daß er durch das Erfinden seiner neuen Werkzeuge über die angestammten Höhlenbewohner hinaus fortgeschritten wäre.«

221a Es ist diese Diagnose, die dem Ansatz der politischen Philosophie von Leo Strauss zugrunde liegt. Die politische Philosophie der Moderne definiert sich selbst durch den Bruch, den sie mit der klassischen Philosophie vollzogen hat. Anstelle des Aufstiegs zur Erkenntnis hat sie einen Stollen in die entgegengesetzte Richtung vorgetrieben, um sich einerseits vor den Gefahren des Aufstiegs zu schützen und um andererseits die interesselose Erkenntnis durch praktisch wirksame »Theorie« zu ersetzen. Sie hat sich dadurch in eine Situation hineinmanövriert, in der Philosophie unmöglich ist. Die dringendste Aufgabe der Philosophie muß es deshalb heute sein, ihr natürliches Ausgangsniveau wiederzufinden. Hierin liegt die Rechtfertigung der, wie es zunächst scheint, philosophiegeschichtlichen Anlage des Werkes von Leo Strauss. »Darum und nur darum ist die >Historisierung< der Philosophie berechtigt und notwendig: nur die Geschichte der Philosophie ermöglicht den Aufstieg aus der zweiten, >unnatürlichen< Höhle, in die wir weniger durch die Tradition selbst als durch die Tradition der Polemik gegen die Tradition geraten sind, in jene erste, >natürliche< Höhle, die Platons Gleichnis schildert, und aus der ans Licht zu gelangen der ursprüngliche Sinn des Philosophierens ist.« Dem zunächst notwendigen philosophiegeschichtlichen Zugang stellen sich zwei Aufgaben. Um den Weg aus der »zweiten Höhle« zurück in die »erste Höhle« zu finden, muß man den Ausgangspunkt der modernen Philosophie suchen und ihre Prinzipien verstehen lernen. Das erfordert ein intensives Studium der Intention der modernen Philosophie und ihrer Geschichte. Des weiteren aber muß man sich, am Ausgangspunkt der Moderne angelangt, radikal von der Systematik modernen Denkens befreien und die von der Tradition der Polemik gegen die Tradition verschütteten Wegmarken entdecken, denen die klassischen Denker gefolgt waren. Spätestens an diesem Punkt transformiert sich das philosophiegeschichtliche in ein philosophisches Unternehmen. »Der Historiker der Philosophie muß sich alsdann einer Transformation in einen Philosophen unterziehen, oder einer Konversion zur Philosophie, wenn er ein kompetenter Historiker der Philosophie sein möchte.« »Die Wegmarken, welche die Denker der Vergangenheit leiteten, müssen wiederentdeckt werden, bevor sie benutzt werden können. Bevor es dem Historiker gelingt, sie wiederzufinden, kann er nicht umhin, sich in einem Zustand äußerster Verwirrung, universalen Zweifels zu befinden: er findet sich selbst in einer Dunkelheit, welche ausschließlich von seinem Wissen erleuchtet wird, daß er nichts weiß. Wenn er sich mit dem Studium der Philosophie der Vergangenheit beschäftigt, muß er wissen, daß er sich auf eine Reise begibt, deren Ende ihm vollständig verborgen ist: er wird wahrscheinlich nicht zu dem Ufer seiner Zeit als derselbe zurückkehren, als der er es verlassen hat.« (Fs)

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