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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Absolute Handlungsverbote 2; 2 Möglichkeiten: intrinsece malum;

Kurzinhalt: Norm ... die nicht nur ut in pluribus, sondern in jedem denkbaren Fall gilt: nicht töten, nicht lügen

Textausschnitt: 305a Nun gibt es aber zwei Möglichkeiten, von immer zu unterlassenden ("in sich" oder per se schlechten) Handlungsweisen zu sprechen:
(1) "Immer zu unterlassen" ist die Wahl und der Vollzug einer Handlung, die objektiv schlecht, z.B. ungerecht ist. Eine objektiv schlechte Handlung wählen impliziert ja einen intentionalen Bezug darauf, was dem Ziel einer bestimmten Tugend entgegengesetzt ist, z.B. Missachtung dessen, was eines anderen Recht oder was ihm geschuldet ist. Deshalb muss man Geliehenes immer zurückerstatten, sofern eben hier "Zurückerstattung" objektiv eine Handlung der Gerechtigkeit ist. Das ist sie jedoch aufgrund der Kontingenz, d.h. Veränderlichkeit, der Handlungsmaterie nur in den meisten Fällen, aber nicht immer. Normen dieser Art sind also nur ut in pluribus (in den meisten Fällen) eine adäquate normative Aussage über einen Handlungsvollzug. Das heißt: Das physische Tun "Zurückerstattung von Geliehenem" besitzt nicht immer oder in allen Fällen oder unter allen Umständen die intentionale Identität eine Aktes der Gerechtigkeit (jemandem das Seine, ihm Zustehende, ihm Geschuldete, sein Recht erstatten), und deshalb fällt sie dann auch nicht unter die (intentionale) Beschreibung jener Handlungsweise, aufgrund derer die Norm "Geliehenes muss zurückerstattet werden" formuliert wurde. Analoges gilt für Diebstahl, Einhalten von Versprechen und Verträgen. (Fs)

306a Dieses "Versagen" von Normen im Einzelfall ergibt sich, wie bereits im vorhergehenden Abschnitt erwähnt, aus der Unvollkommenheit der normativen Formulierung, d.h. des normativen Sprechens über intentionale Handlungen. In einer Norm muss ja auch ein äußerer Handlungsvollzug mitformuliert werden, aber diese Formulierung vermag nicht zu berücksichtigen, dass aufgrund eines Umstandes dieser bestimmte äußere Handlungsvollzug eine intentionale Identität erhalten kann, die verschieden ist von derjenigen, die der Formulierung der Norm zugrundeliegt; denn diese bezieht sich ja auf eine intentionale Handlung (vgl. auch unten 4,d). (Fs) (notabene)

(2) "Immer" oder "in sich schlecht" kann aber auch heißen, dass eine konkret beschreibbare Handlungsweise unter allen Umständen ihre intentionale Identität bewahrt. Dass also in Bezug auf sie eine Norm formuliert werden kann, die nicht nur ut in pluribus, sondern in jedem denkbaren Fall gilt, weil der durch sie betroffene Handlungsvollzug gar nie infolge eines Umstandes unter eine andere intentionale Beschreibung fallen kann. Solche Normen sind z.B. im Bereich der Tugend der Gerechtigkeit "nicht töten" und "nicht lügen". Diese Normen gehören zu jenen, die wir im eigentlichen Sinn absolute Handlungsverbote nennen. Gleichzeitig hindert uns diese Kennzeichnung nicht daran, Mord, Verhängung der Todesstrafe, Töten im Krieg oder "Tyrannenmord" als je andere Typen (Spezies) intentionaler Handlungen zu betrachten, weil ihr genus moris, ihre moralische Identität jeweils verschieden ist. Deshalb fallen sie auch unter verschiedene Normen. (Fs) (notabene)

306b Dies ist nun allerdings ausführlicher zu erläutern. Dabei ist von einer Analyse der intentionalen und damit objektiven Identität der Handlung "einen Menschen (X) töten" auszugehen. X-Töten heißt soviel wie "X das Leben nehmen". Dazu gehört ein entsprechendes physisches Tun, ein äußerer Handlungsvollzug (oder die bloße Zulassung eines Ereignisses, das man verhindern könnte, dessen Verhinderung man aber willentlich unterlässt). Aber das physische Tun oder das Ereignis allein macht noch nicht die Handlung "X-töten aus". Sonst müsste man ja sagen, das auch ein Erdbeben oder eine Pistole im genau gleichen Sinn "X-tötet". Ein Erdbeben vermag wohl den Tod von X zu verursachen, man kann aber nicht sagen, dass diese Verursachung identisch mit der menschlichen Handlung "X-töten" sei. (Fs)

306c Die intentionale Handlung "X-töten" (die weder ein Erdbeben noch eine Pistole vollziehen kann) impliziert zumindest einen gegen das Leben des Opfers, seine physische Existenz oder seine Anwesenheit in der menschlichen Gesellschaft gerichteten Willen (intentio) des Tötenden1. So gesehen heißt dann "X-töten":

(1) Entweder "X aus dem Weg räumen", d.h. seine Existenz wird als Übel betrachtet. Sei es schlechthin, d.h. die letzte Absicht der Tötungshandlung ist einfach, dass X "nicht mehr sei" (das dürfte wohl selten vorkommen); oder als Mittel für eine andere Absicht: Um einen Vorteil zu erhalten (z.B. eine Erbschaft); um die Frau des Getöteten heiraten zu können; um das eigene Leben zu schützen; um anderen das Leben zu retten (z.B. im Erpressungsfall). In allen Fällen lautet das Handlungsurteil: "p ist gut", wobei "p" für "Verursachung der (physischen, gesellschaftlichen) Nichtexistenz von X" steht. Immer ist hier, sei es auf der Ebene der Mittel oder der Ziele, das Urteil über die Nichterwünschtheit eines konkreten menschlichen Lebens impliziert, so dass dieses Leben von der diesem Urteil folgenden Willensentscheidung abhängt. (Fs)

307a Vorausgesetzt wir sind der Meinung, dass die Anerkennung des anderen als mir Gleicher die Grundlage aller Gerechtigkeit ist, dass der andere also ein Recht auf sein Leben hat ganz genau gleich, wie ich es habe, und dass die Anerkennung dieses Rechtes der fundamentale Akt des Wohlwollens gegenüber unserem Mitmenschen ist, so erweist sich die intentionale Handlung X-töten als ein Akt fundamentaler Ungerechtigkeit; unter Umständen kann er sogar explizit ein Akt der Nichtanerkennung des anderen als mir Gleicher sein, sofern ich nämlich nicht nur sein Recht zu leben missachte, sondern ich ihm ein solches Recht nicht einmal zugestehe (Beispiel: Abtreibung). Jedenfalls ist für X "Leben" im fundamentalsten Sinne "das für ihn Gute". Intentional ist die Handlung unmittelbar gegen das gerichtet, was wir dem anderen im grundlegenden Sinne schulden; der Handelnde erreicht durch diese Rechtsverletzung auf Kosten des anderen einen Vorteil (die Handlung ist "unfair") und zugleich ist die Tötungshandlung ein Angriff auf die Gesellschaft, deren Bestand ja auf der gegenseitigen Anerkennung der Gleichheit von Rechten beruht. Sie ist also gleichzeitig auch eine Bedrohung der Überlebenden. Das Tötungsverbot wird damit relativ zum ethischen Kontext "Gerechtigkeit" definiert. Nicht als Zerstörung eines bestimmten Gutes (das Gut des Lebens), das zwar "hochrangig", dennoch aber kein sittliches, sondern nur ein physisches, naturales Gut ist, sondern als Entzug der Anerkennung des anderen als mir Gleicher und damit als fundamentale Ungerechtigkeit. Schlecht ist Töten, weil man sich zu einer konkreten lebenden menschlichen Person durch die Zerstörung ihres Lebens (ihrer leiblichen und damit vollmenschlichen Existenz in dieser Welt) in einer fundamental ungerechten Weise verhält. Verletzt wird dabei nicht das "Gut des Lebens", sondern ein "von Natur aus vernünftiger", in der natürlichen Neigung auf Selbsterhaltung gründender Anspruch d.h. ein Recht einer menschlichen Person und damit diese Person selbst. Das sittliche Übel des Tötens liegt also allein in seiner Ungerechtigkeit. Und umgekehrt: soweit töten im genannten fundamentalen Sinne ungerecht ist, ist es auch ein sittliches Übel. (Fs) (notabene)

307b Dieses Argumentation greift nicht für den Fall aktiver Euthanasie aufgrund einer Tötungsbitte von X. Die intentionale Identität einer solchen Handlung "X-Töten" ist vielmehr Beihilfe zu Selbstmord; oder genauer: Mitvollzug eines Selbstmordes. Die Handlung erhält hier also ihre intentionale Identität von der Handlung "Selbstmord". Dieser selbst ist wiederum eine "Ungerechtigkeit" gegen sich selbst, obwohl man das nur im übertragenen Sinn sagen kann. Ganz abgesehen von schöpfungsmetaphysischen Argumenten (Leben als "Geschenk Gottes") hebt sich der Selbstmörder damit selbst als sittliches Subjekt auf. Wenn es kein Leben nach dem Tod gibt, bleibt diese Handlung für das Subjekt folgenlos, da es ja nicht mehr existiert. Andernfalls jedoch lässt sich begründen, dass Selbstmord als sittliche (immanente) Handlung, die irreparable sittliche Selbstzerstörung eines weiter existierenden menschlichen Handlungssubjekts ist, die totale Abwendung von sich selbst. Das kommt allerdings auch zum Ausdruck, wenn ein Selbstmordversuch misslingt und der Täter als sein eigenes Opfer weiterlebt. Beihilfe oder Mit-Vollzug einer solchen Handlung ist demnach eine gravierende Ungerechtigkeit. Gerecht ist allein zu versuchen, einen Menschen von dieser Handlung abzuhalten. (Fs)

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