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Autor: Kriele, Martin

Buch: Einführung in die Staatslehre

Titel: Einführung in die Staatslehre

Stichwort: Hitler; Faschismustheorie; Mangel und Absicht der Faschismustheorien

Kurzinhalt: Der Nationalsozialismus sei die deutsche Variante des europäischen Faschismus, und Faschismus sei eine Ausgeburt des Kapitalismus ... Alle nichtsozialistischen Staaten sollten erstens unter dem Sammelbegriff des Faschismus zusammengefasst ...

Textausschnitt: 289a Hitler verdankte seine Macht nicht nur überzeugten Parteigängern. Er verdankte sie Menschen, die uns versichern, sie hätten nicht vorhergesehen, was aus Hitler's Machtergreifung werden könne und hätten das nicht gewollt. Diese Versicherung ist zumindest bei der großen Mehrzahl glaubwürdig. Man hat es nicht gewollt und hat es doch herbeigeführt als Wähler, als Koalitionspartner oder sonst Mitwirkender bei Hitler's Regierungsübernahme und vor allem bei der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz am 24. März 1933, das die unbeschränkte Diktatur erst eigentlich begründete. Protestantisch-konservative, katholische und liberale Parteien, die Hitler während der Weimarer Republik zum Teil nachdrücklich bekämpft haben und aus deren Reihen später ein beträchtlicher Teil des Widerstandes hervorging, haben mitgewirkt, eine Diktatur zu errichten, ohne vorherzusehen, was andere aber vorhergesagt haben, z. B. der Fraktionsvorsitzende der SPD, Otto Wels.1 Warum haben die Deutschen auf Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und andere Probleme nicht, wie andere, mit der Wahl anderer demokratischer Parteien innerhalb des demokratischen Systems reagiert, sondern mit der Wahl von totalitären Parteien und schließlich mit der Abschaffung der Demokratie durch eine Diktatur? (Fs)

290a Die so genannten »Faschismustheorien«2 haben dafür eine einfache Erklärung. Der Nationalsozialismus sei die deutsche Variante des europäischen Faschismus, und Faschismus sei eine Ausgeburt des Kapitalismus, nämlich einer radikal gewordenen Reaktion auf den Fortschritt des Sozialismus.3 (Fs)

[...]
Es gibt aber eine Reihe ebenso offenkundiger Tatsachen, die die
Faschismustheorien nicht befriedigend erklären können.1 (Fs)

290c Erstens fällt auf, dass die am stärksten kapitalistisch geprägten Länder, wie z. B. die Schweiz, England, die Niederlande, die USA gegen nationalsozialistische oder vergleichbare Ideen völlig unanfällig waren. Diese Tatsache erklärt sich zwanglos aus der ideenpolitischen Verwandtschaft zwischen Verfassungsliberalismus und Wirtschaftsliberalismus und deren gemeinsamer soziologischer Grundlage im aufgeklärten Bürgertum. Zwar kann sich der Wirtschaftsliberalismus auch mit rechtsgerichteten Diktaturen verbünden, dann aber in der Regel als vorübergehende Notlösung, nicht als prinzipielle und irreversible Abschaffung der freiheitlichen Demokratie (vgl. oben § 45). (Fs)

290d Zweitens bestehen zwischen Faschismus und Nationalsozialismus trotz mancher Verwandtschaft doch so wesentliche Unterschiede, dass es zumindest als grobe Vereinfachung gelten muss, den Nationalsozialismus als die deutsche Variante des Faschismus darzustellen. Rassenideologie, Konzentrationslager, Vernichtungslager fanden sich z.B. im italienischen Faschismus nicht, sind aber kennzeichnende Elemente des Nationalsozialismus. (Fs)

290e Drittens beruhen sowohl der Faschismus als auch der Nationalsozialismus auf Ideen, die keineswegs typisch kapitalistisch sind, ja die mit der Interessen- und Ideenlage des Kapitalismus nicht zusammenstimmen und die ihre soziologische Massenbasis überwiegend in antikapitalistisch orientierten sozialen Schichten gefunden haben. Der antibürgerliche Affekt gegen »Plutokratie«, »Zinsknechtschaft«, »Wallstreet«, das »kapitalistische Weltjudentum« usw. kann unmöglich eine ideologische Ausgeburt des Kapitalismus sein. (Fs)

290f Die zeitweilige Konjunktur der Faschismustheorien entsprang einer offenkundigen Absicht: Alle nichtsozialistischen Staaten sollten erstens unter dem Sammelbegriff des Faschismus zusammengefasst und zweitens durch die Ungeheuerlichkeiten des Nationalsozialismus diskreditiert werden.1 In den westlichen Demokratien herrsche, so hieß es, ein »latenter Faschismus«. Das war die Sprachregelung, die Kollaborateure des Sowjetimperialismus durchzusetzen versuchten, die jedoch in ihrer faktischen Substanzlosigkeit durchschaut wurde. (Fs) (notabene)

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