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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Thomas, Aristoteles (Nikomachische Ethik): Lösung des Zirkels praktischer Vernunft; Unmöglichkeit einer ursprünglichen Zielwahl

Kurzinhalt: Zirkel: die Wahrheit der praktischen Vernunft hänge von der Richtigkeit des Strebens ab, die Richtigkeit des Strebens jedoch wiederum von praktischer Vernunft; fundamentale Zielstruktur menschlichen Handelns

Textausschnitt: 227b In seinem Kommentar zu jener Stelle der Nikomachischen Ethik, an der Aristoteles den Begriff "praktische Wahrheit" einführt, bemerkt Thomas, es scheine sich hier ein Zirkel zu finden: Aristoteles behaupte ja, die Wahrheit der praktischen Vernunft hänge von der Richtigkeit des Strebens ab, die Richtigkeit des Strebens jedoch wiederum von praktischer Vernunft. Thomas löst den Zirkel folgendermaßen: Jene praktische Vernunft, deren Wahrheit in der Übereinstimmung mit dem richtigen Streben besteht, ist die Vernunft, die sich auf die "Wege zum Ziel" (die Mittel) richtet. Das Ziel selbst jedoch ist dem Menschen "von Natur aus bestimmt"1. Damit ist gesagt: Die fundamentale Zielstruktur menschlichen Handelns, ist nicht gesetzt durch einen Akt der Wahlfreiheit, sondern sie liegt jedem freien Wählen und entsprechendem vernünftigem Überlegen immer schon als Ausgangspunkt zugrunde, und zwar eben "von Natur aus". Aber was ist damit gemeint? (Fs) (notabene)

227c Thomas verweist zurück auf das dritte Buch der Nikomachischen Ethik. Tatsächlich heißt es dort, Ziele seien bezüglich der Handlungswahl schon immer ein Zugrundeliegendes und damit vorgegeben. Und zwar entweder "von Natur", oder aber als erworbene Disposition. Denn das Ziel des Tugendhaften ist "richtig", das Ziel des Lasterhaften jedoch "verkehrt", und zwar aus eigenem Verdienst bzw. eigener Schuld. Was uns als Ziel gut und richtig erscheint - d.h. was wir als jenes Letzte erstreben, um dessentwillen uns das Leben als ein Ganzes erstrebenswert erscheint - das hängt wiederum davon ab, was wir selbst für ein Mensch sind bzw. zu was für einem Menschen wir uns gemacht haben. Insofern aber das Ziel, bzw. die Einschätzung dessen, was Ziel ist, nicht unseren erworbenen Dispositionen entspringt, ist es ein von Natur Gegebenes1. Das gilt ja bereits vom "Glück": Wir erstreben es alle "von Natur aus". (Fs)

228a Damit ist freilich nicht geklärt, was denn ein Ziel "richtig" mache. Aber der Zirkel ist aufgelöst: Über jene Ziele, die unserem Handeln die fundamentale Orientierung verleihen, beratschlagen wir nicht und ebensowenig wählen wir sie; sonst würden wir nie handeln. Wir beratschlagen und wählen ja immer um eines Zieles willen. Und zwar letztlich genau um jener Ziele willen, die wir entweder "von Natur aus" oder aufgrund unserer erworbenen Dispositionen erstreben. Was demnach einer für gut hält, das hängt letztlich davon ab, was für ein Mensch er ist, und das wiederum hängt davon ab, was er wählt und entsprechend tut. Die "Ziele", von denen hier die Rede ist, sind also wesentlich nichthintergehbare Ausgangspunkte d.h. Prinzipien. (Fs) (notabene)

228b Eine ursprüngliche Zielwahl, die nicht bereits um eines vorausliegenden (und in diesem Sinne "höheren") Zieles erfolgt, d.h. eine absolut erste, freie Setzung dessen, was wir wollen, ist undenkbar. Eine "reine Wahl der Ziele", die ursprünglich und ohne vorausliegendes "Um-willen" sich vollzöge, wäre eine pure Entscheidung oder Setzung ohne Vernunft. Denn vernünftig wählen kann man nur hinsichtlich eines vorausliegenden Zieles. Das bedeutet allerdings nicht, dass nun die Prinzipien - also das jeweils Erste - vernunftlos erstrebt werden. Aber sie werden nicht gewählt. Und das heißt, es handelt sich um eine Ebene, wo Ziele bzw. Güter intellektiv als solche erkannt und entsprechend erstrebt werden, ohne dass dies jedoch einer Setzung im Sinne einer (Vorzugs-) Wahl entspringt. Allerdings ist dabei die Freiheit nicht aufgehoben; denn man kann sich der Intelligibilität dieser Prinzipien oder Güter und dem ihnen entsprechenden Streben - zumindest teilweise - auch widersetzen. Z.B. (vorgreifend): Auch wenn "Leben-wollen" nicht etwas ist, was wir "vernünftig wählen", sondern einfach immer schon wollen, so können wir uns diesem Streben doch widersetzen und "nicht mehr leben wollen". (Fs) (notabene)

228c Dennoch führt die Meinung des Aristoteles, unsere Auffassung vom Guten hänge jeweils davon ab, was für Menschen wir sind, nicht zu der Ansicht, letztlich sei alles relativ. Denn wir haben zwar die sittlichen Tugenden nicht "von Natur aus", aber auch nicht "gegen die Natur", sondern wir sind "von Natur aus" dazu angelegt, sie zu erwerben1. Zudem spricht Aristoteles von einer "natürlichen Tugend"2. Diese Rede unterstellt, dass es für jeden Habitus der sittlichen Tugend entsprechende naturgegebene Dispositionen gibt, die bei verschiedenen Menschen zwar wiederum von Geburt an verschieden ausgeprägt, aber eben sittliche Tugend gleichsam im Keim und als Anlage sind. Aber das allein würde uns ja noch keine kognitive Orientierung vermitteln, ja solche Tugend, die reines Vermögen ist, könnte sogar Schaden anrichten. Wirkliche, "eigentliche" Tugend, so Aristoteles, ist erst, wo auch Klugheit ist, wo also diese natürliche Disposition mit Vernunft einhergeht. Aber Vernunft allein, das wäre auch wieder nicht Tugend. Vernunft bedarf der natürlich angelegten Disposition oder Neigung. Der Habitus der Klugheit vervollkommnet demnach etwas, was zwar natürlicherweise, aber nicht als sittliche Tugend bereits vorhanden ist. Gleichwohl hilft uns auch das nicht weiter. Denn "natürliche Tugend" als natürliche Tugend zu erkennen - als "Anlage zum Guten" -, das setzt ja selbst wiederum voraus, dass man schon weiß, was gut ist: Es setzt Erfahrung sittlicher Tugend als des Vollkommenen und deshalb Naturgemäßen voraus (vgl. III,5,e). Der Begriff der natürlichen Tugend ist von der Vollkommenheit her gedacht und von ihr her erst wird die natürliche Disposition als Disposition zur Tugend erkannt. Die Frage eines kognitiven Prinzips für diese Vollkommenheit ist damit also nicht gelöst. (Fs)

229a Die Möglichkeit einer Lösung hängt von der Antwort auf folgende Frage ab: Gibt es Ziele, die wir von Natur aus erstreben und auch als "richtige" Ziele unabhängig vom Besitz des Habitus der Tugend und seiner affektiv-kognitiven Orientierungsleistung erkennen können? Das Glück, die Eudaimonia ist zwar ein solches Ziel. Aber es taugt ja nicht zur Bestimmung unserer Handlungs-Wahlakte (vgl. III,1). Gibt es Gutes, das wir von Natur aus erstreben und das zugleich Handeln zu leiten vermag? Wenn es das gibt, so wäre es in der Tat ein Handlungsprinzip, wie wir es suchen. Es wäre ein Kriterium von "Richtigkeit" des Zielstrebens. (Fs)

229b Allerdings könnte man fragen: Warum denn wäre es ein Kriterium von Richtigkeit? Es wäre doch zunächst ganz einfach nur ein Faktum, und richtig könnte immer noch jenes sein, was wir durch Hinterfragung dieses Faktums aus Freiheit bejahen oder auch verneinen. Der Einwand klingt zunächst plausibel. Es gibt jedoch einen gewichtigen Grund, ihn als falsch zu betrachten. (Fs)

229c Zunächst: Falls wir tatsächlich etwas von Natur aus als gut erstreben, so kann dies nur aus einem einzigen Grund sein: Weil unsere Vernunft wiederum von Natur aus dieses so Erstrebte als gut erkennt, und zwar in der Logik der Struktur praktischer Urteile der Art "p ist gut". Freilich ist jenes Gute, auf das sich das sinnliche Streben (auf der sinnlich-naturalen Ebene) richtet, damit nicht gemeint. Denn dieses Gut ist ja nur ein naturales Gut, und nicht ein "Gut der Vernunft" (bonum rationis). Aber der Wille - das "Streben in der Vernunft" - vermag sich ja auch auf solche in ihrem Ursprung bloß sinnliche Güter zu richten, und sie als Gut der Vernunft, d.h. in der Ordnung der Vernunft wiederum als gut (als "Gutes für die Vernunft") zu erfassen. Und insofern sie in dieser Ordnung von Natur aus als gut erkannt und erstrebt sind, sind sie eben "von Natur aus" Zielgüter menschlichen Handelns und damit Prinzipien der praktischen Vernunft. (Fs)

229d Worin besteht nun die Widerlegung des obigen Einwandes? Die Widerlegung lautet: Ein Streben, das sich auf solches richtet, was die Vernunft "von Natur aus" als gut erkennt, das ist notwendigerweise auch "richtig". Jede Freiheit, die ein solches Streben nur als bloßes Faktum anerkennen würde, um es darauf noch einmal hinsichtlich seiner Richtigkeit zu hinterfragen, würde sich selbst als vernunftgeleitete Freiheit aufheben. Sie würde nämlich fragen, ob das Vernünftige vernünftig sei, wenn anders die Frage nach Richtigkeit in eins fällt mit der Frage nach Vernünftigkeit. Dass dies aber der Fall ist, das haben wir ja bereits gezeigt: "Gut" und "schlecht", "richtig" und "falsch" im menschlichen Handeln bestimmen sich gemäß der Vernunft. Falls also die Vernunft etwas von Natur aus als Gut oder Übel erfasst, so ist ein entsprechendes Erstreben dieses Guten oder Fliehen dieses Üblen notwendigerweise -ja geradezu definitionsgemäß - auch richtig. Denn das Richtige ist eben genau das Vernunftgemäße, und nicht umgekehrt. Und das "von Natur aus Vernünftige" ist dann auch das "von Natur aus Richtige" oder Gute. Die Frage stellen, ob jenes Streben richtig sei, das sich darauf erstreckt, was wir von Natur aus als gut erfassen, hieße, Vernünftigkeit wiederum aufgrund von Kriterien der Vernünftigkeit hinterfragen zu wollen. Jedoch auch hier gilt: "Man kann nicht Gründe hören wollen dafür, dass man auf Gründe hören soll"1. Die Frage zielt ins Leere, und ebenso ins Leere zielte eine Freiheit, die, was von Natur aus von der Vernunft als gut erfasst wird, durch Hinterfragung zu problematisieren suchte. (Fs) (notabene)

[...]

231a Um das "von Natur aus Vernünftige" zu bestimmen, dafür hat uns Aristoteles keine Theorie geliefert, wohl aber Thomas von Aquin. Es ist seine Lehre über die lex naturalis, das "natürliche Gesetz". Zu diesem Terminus sind jedoch zunächst einige Bemerkungen angebracht, um mögliche Missverständnisse zu vermeiden1. (Fs)

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