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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Gewissen; Synderesis - Anamnesis (Paulus, Basilius, Augustinus); Papst als Hüter des Gewissens und Gedächtnisses

Kurzinhalt: Auf dieser Anamnese des Schöpfers, die mit dem Grund unserer Existenz identisch ist, beruhen Möglichkeit und Recht der Mission. Das Evangelium darf, ja muss den Heiden verkündet werden, weil sie selbst im Verbogenen darauf warten

Textausschnitt: 114a Nach all diesen Wanderungen durch die Geistesgeschichte wird es nun Zeit, zu Ergebnissen zu kommen, also einen Begriff des Gewissens zu formulieren. Der mittelalterlichen Tradition möchte ich darin recht geben, dass der Gewissensbegriff zwei Ebenen umfasst, die man gut unterscheiden, aber auch stets aufeinander beziehen muss1. Viele unannehmbare Thesen zur Frage des Gewissens scheinen mir darauf zu beruhen, dass man entweder die Unterscheidung oder die Beziehung vernachlässigt hat. Der Hauptstrom der Scholastik hat die zwei Ebenen des Gewissens in den Begriffen Synderesis und Conscientia ausgedrückt. Das Wort Synderesis (Synteresis) war aus der stoischen Mikrokosmoslehre in die mittelalterliche Gewissenstradition geraten2. Es blieb in seiner genauen Bedeutung unklar und wurde so zu einem Hindernis für eine sorgsame Entfaltung dieser wesentlichen Ebene der ganzen Frage nach dem Gewissen. Ich möchte deshalb, ohne in geistesgeschichtliche Dispute einzutreten, dieses problematische Wort durch den viel deutlicher bestimmten platonischen Begriff der Anamnesis ersetzen, der nicht nur sprachlich klarer sowie philosophisch tiefer und reiner ist, sondern vor allem auch mit wesentlichen Motiven des biblischen Denkens und der von der Bibel her entwickelten Anthropologie zusammenklingt. (Fs) (notabene)

115a Mit dem Wort Anamnesis soll hier genau das ausgesagt sein, was Paulus im zweiten Kapitel des Römerbriefs so ausgedrückt hat: "Wenn also Heiden, die das Gesetz nicht haben, von sich aus tun, was das Gesetz will, sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie erweisen, dass das vom Gesetz geforderte Werk in ihre Herzen geschrieben ist, wobei ihr Gewissen Zeugnis ablegt..." (2, 14f.). (Fs)

115b Derselbe Gedanke findet sich eindrucksvoll entfaltet in der großen Mönchsregel des heiligen Basilius. Dort lesen wir: "Die Liebe zu Gott beruht nicht auf einer von außen uns auferlegten Disziplin, sondern sie ist konstitutiv als Fähigkeit und Notwendigkeit unserem Vernunftwesen eingestiftet." Basilius spricht mit einem in der mittelalterlichen Mystik wichtig gewordenen Wort von dem "Funken göttlicher Liebe, der in uns eingeboren ist"3. Im Geist der johanneischen Theologie weiß er, dass die Liebe im Halten der Gebote besteht, und deswegen bedeutet der uns schöpfungsmäßig eingesenkte Funke der Liebe dies: "Fähigkeit und Bereitschaft zum Vollzug aller göttlichen Gebote haben wir im Voraus innen empfangen [...] sie sind nicht etwas von außen Auferlegtes." Das Gleiche auf seinen einfachen Kern zurückführend, sagt Augustinus dazu: "Wir könnten nicht urteilend sagen, dass das eine besser sei als das andere, wenn uns nicht ein Grundverständnis des Guten eingeprägt wäre."4 (Fs)

115c Das bedeutet: Die erste, sozusagen ontologische Schicht des Phänomens Gewissens besteht darin, dass uns so etwas wie eine Urerinnerung an das Gute und an das Wahre (beides ist identisch) eingefügt ist; dass es eine innere Seinstendenz des gottebenbildlich geschaffenen Menschen auf das Gottgemäße hin gibt. Sein Sein selbst klingt von seinem Ursprung her mit dem einen zusammen und steht im Widerspruch mit dem anderen. Diese Anamnese des Ursprungs, die sich aus der gottgemäßen Konstitution unseres Seins ergibt, ist nicht ein begrifflich artikuliertes Wissen, ein Schatz von abrufbaren Inhalten. Sie ist sozusagen ein innerer Sinn, eine Fähigkeit des Wiedererkennens, sodass der davon Angesprochene und inwendig nicht verborgene Mensch das Echo darauf in sich erkennt. Er sieht: Das ist es, worauf mein Wesen hinweist und hin will. (Fs)

116a Auf dieser Anamnese des Schöpfers, die mit dem Grund unserer Existenz identisch ist, beruhen Möglichkeit und Recht der Mission. Das Evangelium darf, ja muss den Heiden verkündet werden, weil sie selbst im Verbogenen darauf warten (vgl. Jes 42, 4). Die Mission rechtfertigt sich dann, wenn ihre Adressaten bei dem Begegnen mit dem Wort des Evangeliums wieder erkennen: Ja, das ist es, worauf ich gewartet habe. In diesem Sinn kann Paulus sagen: Die Heiden sind sich selbst Gesetz - nicht in der Weise des neu-zeitlich-liberalistischen Autonomiegedankens mit seiner Unübersteiglichkeit des Subjekts, sondern in dem viel tieferen Sinn, dass mir nichts so wenig gehört wie ich mir selbst, dass mein eigenes Ich der Ort der tiefsten Selbstüberschreitung und des Berührtseins von dem ist, woher ich komme und wohin ich gehe. Paulus drückt in diesen Sätzen die Erfahrung aus, die er selbst als Heidenmissionar gemacht hatte und die vorher schon Israel im Umgang mit den "Gottesfürchtigen" erleben durfte: Israel hatte in der Heidenwelt erleben können, was die Boten Jesu Christi erneut bestätigt fanden. Ihre Verkündigung antwortete einer Erwartung. Sie traf auf ein ihr vorgängiges Grundwissen um die wesentlichen Konstanten des in den Geboten schriftlich gewordenen Gotteswillens, das sich in allen Kulturen findet und sich um so reiner entfaltet, je weniger zivilisatorische Eigenmacht dieses Urwissen verstellt. Je mehr der Mensch aus der "Gottesfurcht" lebt - man vergleiche die Kornelius-geschichte (bes. Apg 10, 34) -, desto konkreter und klarer wird diese Anamnese auch wirksam. (Fs)

[...]

117b Von der Anthropologie des Gewissens her, wie wir sie in diesen Überlegungen allmählich zu ertasten versuchen, stellen sich die Dinge ganz anders dar. Die unserem Sein eingesenkte Anamnese braucht sozusagen die Nachhilfe von außen, damit sie ihrer selbst inne wird. Aber dies Äußere ist doch nicht etwas ihr Entgegengesetztes, sondern ihr zugeordnet: Es hat mäeutische Funktion, legt ihr nicht Fremdes auf, sondern bringt ihr eigenes, ihre eigene innere Eröffnetheit für die Wahrheit zum Vollzug. Wo es um Glaube und Kirche geht, deren Radius vom erlösenden Logos her über die Gabe der Schöpfung hinausreichen, müssen wir allerdings noch eine weitere Ebene hinzunehmen, die besonders in den Johanneischen Schriften entwickelt ist. Johannes kennt die Anamnesis des neuen Wir, das uns in der Einkörperung in Christus (ein Leib, d. h.: ein Ich mit ihm) zuteil geworden ist. Erinnernd begriffen sie, heißt es verschiedentlich im Evangelium. Die Urbegegnung mit Jesus hat den Jüngern das gegeben, was nun alle Generationen durch ihre grundlegende Begegnung mit dem Herrn in Taufe und Eucharistie empfangen: die neue Anamnese des Glaubens, die sich ähnlich wie die Schöpfungsanamnese im ständigen Dialog von innen und außen entfaltet. Gegenüber der Anmaßung gnostischer Lehrer, die den Gläubigen einreden wollten, Ihr naiver Glaube müsse ganz anders aufgefasst und gewendet werden, konnte Johannes daher sagen: Ihr braucht solcher Belehrung nicht; als Gesalbte (Getaufte) wisst ihr alles (1 Joh 2, 20). Das bedeutet nicht ein inhaltliches Alles-Wissen der Gläubigen, aber es bedeutet die Untrüglichkeit des christlichen Gedächtnisses, das zwar immer lernt, aber aus seiner sakramentalen Identität heraus von innen her unterscheidet zwischen dem, was Entfaltung des Erinnerns und was seine Zerstörung oder Verfälschung ist. (Fs)

118a Die Kraft dieses Erinnerns und die Wahrheit des apostolischen Wortes erfahren wir heute in der Krise der Kirche ganz neu, wo weit mehr als die hierarchische Weisung die Unterscheidungskraft des einfachen Glaubensgedächtnisses zur Scheidung der Geister führt. Nur in diesem Zusammenhang kann man den Primat des Papstes und seinen Zusammenhang mit dem christlichen Gewissen richtig verstehen. Der wahre Sinn der Lehrgewalt des Papstes besteht darin, dass er Anwalt des christlichen Gedächtnisses ist. Der Papst legt nicht von außen auf, sondern er entfaltet das christliche Gedächtnis und verteidigt es. Deshalb muss in der Tat der Toast auf das Gewissen demjenigen auf den Papst vorangehen, weil es ohne Gewissen gar kein Papsttum gäbe. Alle Macht, die es hat, ist Macht des Gewissens - Dienst an der doppelten Erinnerung, auf der der Glaube ruht und die immer wieder neu geeignet, erweitert und verteidigt werden muss gegen die Zerstörung des Gedächtnisses, das sowohl durch eine den eigenen Grund vergessende Subjektivität wie durch den Zwang sozialer und kultureller Konformität bedroht ist. (Fs) (notabene)

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