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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Newman; Gewissen, Subjektivität - Autotität - Mittelbegriff Wahrheit

Kurzinhalt: Autorität und Subjektivität; der Mittelbegriff, der bei Newman den Zusammenhang von beidem herstellt, ist die Wahrheit

Textausschnitt: 109a Wem fiele beim Thema Newman und das Gewissen nicht der berühmte Satz aus dem Brief an den Herzog von Norfolk ein: Wenn ich - was höchst unwahrscheinlich ist - einen Toast auf die Religion ausbringen müsste, würde ich auf den Papst trinken. Aber zuerst auf das Gewissen und dann erst auf den Papst1. Nach Newmans Absicht sollte dies - im Gegenüber zu den Einlassungen Gladstones - ein klares Bekenntnis zum Papsttum sein, aber auch - gegenüber Fehlformen des "Ultramonatismus" - eine Interpretation des Papsttums, das nur dann recht begriffen ist, wenn es zusammengesehen wird mit dem Primat des Gewissens - ihm nicht entgegengesetzt, sondern auf ihm gründend und ihn verbürgend. Dies zu verstehen ist für den modernen Menschen schwierig, der aus der Entgegensetzung von Autorität und Subjektivität heraus denkt. Für ihn steht das Gewissen auf Seiten der Subjektivität und ist Ausdruck der Freiheit des Subjekts, während Autorität als deren Einschränkung oder gar Bedrohung und Negation erscheint. So müssen wir hier etwas tiefer gehen, um eine Vision wieder verstehen zu lernen, in der diese Art von Gegensatz nicht gilt. (Fs)

110a Der Mittelbegriff, der bei Newman den Zusammenhang von beidem herstellt, ist die Wahrheit. Ich stehe nicht an zu sagen, dass Wahrheit der zentrale Gedanke von Newmans geistigem Ringen ist; das Gewissen ist bei ihm deshalb zentral, weil die Wahrheit in der Mitte steht. Anders gesagt: Die Zentralität des Gewissensbegriffs bei Newman ist gebunden an die vorgängige Zentralität des Wahrheitsbegriffs und nur von dieser her zu verstehen. Die Dominanz der Idee des Gewissens bedeutet bei Newman nicht, dass er nun, im 19. Jahrhundert und im Gegenüber zur "objektivistischen" Neuscholastik, sozusagen eine Philosophie oder Theologie der Subjektivität vertritt. Gewiss, das Subjekt findet bei Newman eine Aufmerksamkeit, wie es sie in katholischer Theologie vielleicht seit Augustin nicht mehr erfahren hatte. Aber es ist eine Aufmerksamkeit auf der Linie Augustins und nicht auf derjenigen der subjektivistischen Philosophie der Neuzeit. (Fs)

[...]"1 Es ging Newman vielmehr darum, erkannter Wahrheit mehr gehorchen zu müssen als eigenem Geschmack, also auch gegen das eigene Empfinden und gegen Bindungen der Freundschaft wie des gemeinsamen Weges. Es scheint mir bezeichnend, dass Newman in der Reihenfolge der Tugenden den Vorrang der Wahrheit vor der Güte betonte oder, für uns verständlicher ausgedrückt: ihren Vorrang vor dem Konsens, vor der Gruppenverträglichkeit. (Fs)

111a Ich würde sagen: Diese Haltungen sind gemeint, wenn wir von einem Mann des Gewissens sprechen. Ein Mann des Gewissens ist ein Mensch, der niemals Verträglichkeit, Wohlbefinden, Erfolg, öffentliches Ansehen und Billigung von Seiten der herrschenden Meinung durch den Verzicht auf Wahrheit erkauft. Darin berührt sich Newman mit dem anderen großen Gewissenszeugen Britanniens, mit Thomas Morus, für den das Gewissen keineswegs Ausdruck seines subjektiven Beharrungswillens oder eines eigensinnigen Heroismus war. Er hat sich selbst zu den ängstlichen Märtyrern gezählt, die nur unter Stocken und vielen Fragen sich den Gehorsam gegen das Gewissen abringen: den Gehorsam gegen die Wahrheit, die höher stehen muss als jede soziale Instanz und als jede Art von persönlichem Geschmack2. So zeigen sich zwei Maßstäbe für die Anwesenheit eines wirklichen Gewissenswortes: Es fällt nicht zusammen mit den eigenen Wünschen und dem eigenen Geschmack; es fällt nicht zusammen mit dem, was das sozial Günstigere ist, mit dem Konsens der Gruppe, mit den Ansprüchen politischer oder sozialer Macht. (Fs) (notabene)

111b An dieser Stelle liegt ein Seitenblick auf die Problematik unseres Zeitalters nahe. Der Einzelne darf seinen Aufstieg, sein Wohlbefinden nicht durch Verrat an der erkannten Wahrheit erkaufen. Die Menschheit darf es nicht. Hier berühren wir den eigentlich kritischen Punkt der Neuzeit: Der Begriff Wahrheit ist praktisch aufgegeben und durch den des Fortschritts ersetzt worden. Der Fortschritt selbst "ist" die Wahrheit. Aber durch diese scheinbare Erhöhung wird er richtungslos und hebt sich selber auf. Denn wenn es keine Richtung gibt, kann alles sowohl Fortschritt wie Rückschritt sein. (Fs)

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