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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Gewissen und Wahrheit; zwei Konzepte; Gewissensmoral und Autoritätsmoral als zwei gegensätzliche Modelle im Kampf miteinander

Kurzinhalt: ... ein erneuertes Verständnis seines Wesens, das den christlichen Glauben vom Grund der Freiheit her und als Prinzip der Freiheit entfaltet, und ein überholtes "vorkonziliares" Modell, das ...

Textausschnitt: 100a Die Frage nach dem Gewissen ist heute, besonders im Bereich der katholischen Moraltheologie, zum Kernpunkt des Moralischen und seiner Erkenntnis geworden. Diese Auseinandersetzung kreist um die Begriffe Freiheit und Norm, Autonomie und Heteronomie, Selbstbestimmung und Fremdbestimmung durch Autorität. Das Gewissen erscheint dabei als das Bollwerk der Freiheit gegenüber den Einengungen der Existenz durch die Autorität. Dabei werden dann zwei Konzeptionen des Katholischen gegenübergestellt: ein erneuertes Verständnis seines Wesens, das den christlichen Glauben vom Grund der Freiheit her und als Prinzip der Freiheit entfaltet, und ein überholtes "vorkonziliares" Modell, das die christliche Existenz der Autorität unterwirft, die das Leben bis in die intimen Bereiche hinein normiert und dadurch ihre Macht über die Menschen aufrechtzuerhalten versucht. So scheinen Gewissensmoral und Autoritätsmoral als zwei gegensätzliche Modelle im Kampf miteinander zu liegen; die Freiheit des Christenmenschen würde dann durch den Ursatz moralischer Überlieferung gerettet, dass das Gewissen die oberste Norm ist, der der Mensch - auch gegen die Autorität - zu folgen hat. Wenn die Autorität, das heißt in diesem Fall das kirchliche Lehramt, in Dingen der Moral spricht, so könnte sie demnach dem Gewissen Material für seine eigene Urteilsbildung liefern, die aber doch das letzte Wort behalten müsste. Diese Letztinstanzlichkeit des Gewissens wird von manchen Autoren auf die Formel gebracht, das Gewissen sei unfehlbar1. (Fs) (notabene)

101a An dieser Stelle kann nun allerdings Widerspruch aufsteigen. Dass man einem klaren Gewissensspruch immer folgen muss, zumindest nicht gegen ihn handeln darf, ist unbestritten. Aber ob das Gewissensurteil oder was man für ein solches ansieht, auch immer recht habe, ob es unfehlbar sei, ist eine andere Frage. Denn wenn es so wäre, würde dies ja heißen, dass es keine Wahrheit gibt - zumindest in Sachen der Moral und der Religion, also im Bereich der eigentlichen Grundlagen unserer Existenz. Denn die Gewissensurteile widersprechen sich; es gäbe also nur eine Wahrheit des Subjekts, die sich auf dessen Wahrhaftigkeit reduzieren würde. Aus dem Subjekt würde dann keine Tür und kein Fenster herausführen ins Ganze und ins Gemeinsame hinein. Wer dieses zu Ende denkt, wird zur Erkenntnis kommen, dass dann aber auch keine wirkliche Freiheit existiert und dass die vermeintlichen Gewissenssprüche nur Reflexe sozialer Vorgegebenheiten sind. Das müsste dann zu der Einsicht führen, dass die Gegenüberstellung von Freiheit und Autorität irgend etwas auslässt; dass es noch etwas Tieferes geben muss, wenn Freiheit und damit Menschsein einen Sinn haben sollen. (Fs) (notabene)

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