Datenbank/Lektüre


Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Gewissen; Reduktion auf subjektive Gewissheit

Kurzinhalt: Die Identifikation des Gewissens mit dem Oberflächenbewusstsein und die Reduktion des Menschen auf seine Subjektivität befreit nicht, sondern versklavt

Textausschnitt: 107a An dieser Stelle unserer Überlegungen ist es möglich, erste Konsequenzen zur Beantwortung der Frage nach dem Wesen des Gewissens zu ziehen. Wir können jetzt sagen: Es geht nicht an, das Gewissen des Menschen mit dem Selbstbewusstsein des Ich, mit seiner subjektiven Gewissheit über sich und sein moralisches Verhalten zu identifizieren. Dieses Bewusstsein kann einerseits bloßer Reflex des sozialen Umfelds und der dort verbreiteten Meinungen sein. Es kann andererseits auf einen Mangel an Selbstkritik, an Hören auf die Tiefe der eigenen Seele verweisen. Was nach dem Sturz der marxistischen Systeme im Osten Europas zutage kam, bestätigt diese Diagnose. Die wachsten und lautersten Geister der befreiten Völker sprechen von einer ungeheuren seelischen Verwahrlosung, die in den Jahren der geistigen Verbildung eingetreten sei; von einer Abstumpfung des moralischen Sinns, die als Verlust und Gefahr schwerer wiege als die wirtschaftlichen Schäden, die eingetreten sind. (Fs) (notabene)

107b Der Moskauer Patriarch hob dies zum Beginn seines Wirkens im Sommer 1990 eindrucksvoll hervor: Die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen, die in einem System des Betrugs lebten, habe sich verdunkelt. Die Gesellschaft habe die Fähigkeit zur Barmherzigkeit eingebüßt, und die menschlichen Gefühle seien verloren gegangen. Eine ganze Generation sei für das Gute, für Taten der Menschlichkeit verloren. "Wir müssen die Gesellschaft zu den ewigen moralischen Werten zurückführen", das heißt: das fast erloschene Gehör für den Zuspruch Gottes im Herzen des Menschen wieder entwickeln. Der Irrtum, das irrende Gewissen, ist nur im ersten Augenblick bequem. Dann aber wird das Verstummen des Gewissens zur Entmenschlichung der Welt und zur tödlichen Gefahr, wenn man ihm nicht entgegenwirkt. (Fs)

107c Anders ausgedrückt: Die Identifikation des Gewissens mit dem Oberflächenbewusstsein und die Reduktion des Menschen auf seine Subjektivität befreit nicht, sondern versklavt; sie macht uns erst vollends abhängig von den herrschenden Meinungen und erniedrigt das Niveau der herrschenden Meinungen selbst von Tag zu Tag. Wer das Gewissen mit oberflächlicher Überzeugtheit gleichsetzt, identifiziert es mit einer schein-rationalen Sicherheit, die aus Selbstgerechtigkeit, Konformismus und Trägheit gewoben ist. Das Gewissen wird zum Entschuldigungsmechanismus degradiert, während es doch die Transparenz des Subjekts für das Göttliche und so die eigentliche Würde und Größe des Menschen darstellt. Die Reduktion des Gewissens auf subjektive Gewissheit bedeutet zugleich den Entzug der Wahrheit.

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt